Koloniale Spuren in Münster – ein Gespräch mit Frau Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck vom Historischen Seminar der Uni Münster
Written by Redaktion on 16. Dezember 2025
Lora Sobolta, Marie Ehlebracht
Die Kolonialzeit prägt das Weltbild bis heute. Auch Deutschland war einst eine bedeutende Kolonialmacht und hat wesentlich dazu beigetragen, dass ungleiche Strukturen fortbestehen. Die Spuren dieser Zeit sind auch in Münster weiterhin sichtbar. Das Stadtmuseum Münster macht mit dem “Themenraum Kolonialismus” darauf aufmerksam und zeigt, wie sich der Blick im Laufe der Geschichte verändert hat.
Radio Q-Reporterinnen Mary Ehlebracht und Lora Sobolta haben mit Frau Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck gesprochen. Sie ist Professorin für lateinamerikanische Geschichte an der Uni Münster und hat zusammen mit Frau Dr. Barbara Rommé und Herr Dr. Johannes Jansen den “Themenraum Kolonialismus“ kuratiert. In diesem Interview erzählt sie uns, welche kolonialen Spuren sich in Münster noch finden lassen, welche Aspekte die Ausstellung beleuchtet und wie Studierende der Uni Münster die Ausstellung mitgestaltet und bereichert haben.
Lora Sobolta: Guten Tag Frau Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen für das Interview. Möchten Sie einmal das Projekt vorstellen? Wie ist das entstanden und welche Rolle haben Sie dabei eingenommen?
Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck: Guten Tag! Ja, gerne. Die erste Idee des Projekts entstand schon im August 2022. Nach ungefähr anderthalb Jahren konnten wir dann Johannes Jansen als Mitkurator akquirieren. Er arbeitet an einem Projekt mit, das gemeinsam mit Forsa, die erste repräsentative Bevölkerungsumfrage in Deutschland zu Wissen und Einstellungen zur Kolonialgeschichte durchführt. Das wurde zu einem wichtigen Baustein der Ausstellung.
Ein zweiter wichtiger Baustein sind die Arbeiten von Studierenden. Über mehrere Semester hinweg bin ich mit den Studierenden in Archive und Sammlungen in Münster gegangen und sie haben sich Objekte rausgesucht, die sie in der Ausstellung präsentieren. Wir haben uns auf Massendruckwaren, wie zum Beispiel Postkarten, Plakate und Publikationen beschränkt und diese digital dargestellt. Uns hat interessiert, wie der Blick der Menschen in Münster auf den deutschen Kolonialismus war und wie er sich im Laufe der Zeit verändert hat.
Außerdem wollten wir, dass verschiedene Akteur*innen in Münster ihre Sicht darstellen können. Das sind einerseits historische Arbeiten vom Stadtarchiv und andererseits auch der Integrationsrat der Stadt Münster und Vereine wie zum Beispiel die Afrika-Kooperative. Das Stadtmuseum selbst hat auch inhaltlichen Input geliefert und ausführliche Recherchen betrieben, insbesondere zu Völkerschauen und Kolonialwarenläden.
Mary Ehlebracht: Warum haben Sie sich entschieden, das Projekt mit Studierenden durchzuführen?
Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck: Die Idee war, dass wir forschendes Lernen machen, also dass die Studierenden selbst entscheiden können, welche Dokumente aus den Archiven sie bearbeiten wollen, was sie interessiert, was sie besonders fasziniert und wo sie vielleicht auch selbst noch neue Dinge zutage fördern können. Das hat, glaube ich, auch sehr gut funktioniert. Ich habe tatsächlich auch mittlerweile einige Studierende, die ihre Abschlussarbeiten zu einem verwandten Thema geschrieben haben und dann in einem der Archive, das wir besucht haben, noch weiter forschten. Durch die Förderung der Universitätsgesellschaft, die besonders Studierende in den Blick nimmt, hatten wir dann auch die Möglichkeit, sie in der Ausstellung aktiv einzubinden, sodass sie die Führungen machen.
Lora Sobolta: Inwiefern hat der Kolonialismus seine Spuren in Münster hinterlassen?
Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck: Man sieht die Spuren heute noch im Stadtbild. Das ist etwas, was das Stadtarchiv schon länger unter Leitung von Philipp Erdmann erarbeitet hat – eine Karte, auf der man sich anschauen kann, welche Orte in Münster etwas mit dem Kolonialismus zu tun haben. Das sind dann auch kleine Dinge, wie Straßennamen. In Münster gibt es eine Bürger*inneninitiative, die den Lüderitz – und den Woermannweg umbenennen möchte*. Ein weiteres Beispiel ist das Traindenkmal am Ludgerikreisel, das zunächst in den 20er Jahren als Kriegerdenkmal mit viel Pomp eröffnet wurde. Dann wurde es durch zwei zusätzliche Bronzeplatten als Kolonialdenkmal umgedeutet und blieb dort eine ganze Weile kritiklos stehen. Bis es dann in den 80er Jahren in Münster im Zuge der Friedensbewegung und im Nachgang der 68er-Proteste einen antiimperialistischen Widerstand gab. Dann ist wieder lange nichts passiert und 2023 wurde eine Stele angebracht, die dieses Kolonial- und Kriegerdenkmal einordnet und erklärt hat. Es sind ganz unterschiedliche Facetten und Bereiche, in denen man immer noch koloniale Spuren sehen kann. Das Ziel der Ausstellung ist, die lange historische Dauer und den sich wandelnden Blick auf den Kolonialismus in den Blick zu nehmen.
Mary Ehlebracht: Sie haben darüber gesprochen, dass es in der Gesellschaft einen Wandel in der Bewertung des Kolonialismus gab. Wir haben uns auch gefragt, wie Sie den Umgang der Stadt Münster und der Uni Münster mit dem Thema bewerten.
Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck: Es geht auch um Aushandlungen, wie an diese koloniale Geschichte erinnert wird. Es gibt natürlich sowohl in der Universität als auch in der Stadt sehr viele unterschiedliche Akteur*innen, die auch unterschiedliche Meinungen haben. Ich würde aber sagen, dass da einiges in Bewegung ist. Durch Forschung zu dem Thema, aber auch durch die Debatten, zum Beispiel um die Denkmäler, wurde das Thema durchaus in die Öffentlichkeit getragen und lange diskutiert. Das sieht man auch bei der Umbenennung des Lüderitz- und des Woermann-Weges. Das sollte eigentlich im Sommer entschieden werden. Final wurde es dann aber nochmal vertagt.
Lora Sobolta: Und wie sieht es mit der Uni Münster aus?
Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck: Es gab vereinzelt Proteste gegen die Umbenennung der Uni Münster. Mein Kollege Olaf Blaschke, der sehr engagiert in der Kommission war, hat mir erzählt, dass er einige Mails von ehemaligen Studierenden bekommen hat, die sich sehr dagegen gewehrt haben, dass ihre Universität umbenannt wird. Aber das Abstimmungsergebnis hat gezeigt, dass durch einen umfassenden Prozess eine große Mehrheit an der Universität dazu bewegt wurde, der Umbenennung zuzustimmen. Das liegt natürlich nicht nur an dem kolonialen Erbe von Wilhelm II., sondern zum Beispiel auch daran, dass er sich schlicht und ergreifend nie für die Universität interessiert hat.
Mary Ehlebracht: Haben Sie die gesellschaftlichen Debatten auch während der Kuration der Ausstellung wahrgenommen?
Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck: Es gibt noch nicht über alles einen gesellschaftlichen Konsens und deshalb wollten wir dem Ganzen einen prominenten Raum geben. Wir hatten Unterstützung von einem Beirat, mit dem wir aber auch Diskussionen geführt haben, zum Beispiel darüber, inwiefern wir Bilder zeigen, die koloniale und rassistische Stereotype zeigen.
Mary Ehlebracht: Was denken Sie, inwiefern der Fokus auf das Lokale, auf Münster, das ganze Thema nahbarer macht, für Menschen, die die Ausstellung besuchen und so möglicherweise deren Wahrnehmung beeinflusst?
Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck: In der Ausstellung gibt es zwei Orte, wo man seine Meinung hinterlassen kann. Dort haben sich schon sehr viele Museumsbesucher*innen beteiligt. Daran besteht also durchaus Interesse. Und zwar einerseits über das Lokale, aber nicht nur. Dieses Element der Umfrage lädt dazu ein, seine eigene Meinung zu sagen. Ich bin der Auffassung, dass diese Verbindung von der Umfrage, aber auch von den lokalen Beispielen, also zum Beispiel von den Völkerschauen, von den Kolonialwarenläden und wieviele es davon in Münster gab und wo die genau waren, durchaus vielen Menschen hilft, diesen Bezug herzustellen. Das ist, glaube ich, sehr unterschiedlich, je nachdem, wer die jeweiligen Besucher*innen sind.
Mary Ehlebracht: Nun möchte ich vom Lokalen weg, hin zum gesamtgesellschaftlichen und eine Frage zur Forsa-Umfrage stellen.
Die Ergebnisse zeigen, dass viele Menschen der Auffassung sind, der Kolonialismus liege zu weit in der Vergangenheit, um noch relevant zu sein. Woran glauben Sie, liegt das?
Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck: Ich glaube, das hat einerseits zu tun mit größeren gesellschaftlichen Debatten, die wir ja auch nicht nur in Deutschland zurzeit haben. Die USA sind das bekannteste Beispiel, wo es durchaus Tendenzen gibt, die Geschichte der Sklaverei nicht mehr zu thematisieren und solche schwierigen, kontroversen Themen aus der Vergangenheit möglichst weit von sich weg zu halten. In Deutschland ist das Thema Nationalsozialismus das Paradethema, das noch häufiger diskutiert wird, aber bei dem die Debatten auch in eine ähnliche Richtung gehen – Stichwort Schuldkult. Damit ist gemeint, dass die AfD nicht möchte, dass man sich mit schwierigen Themen der deutschen Geschichte auseinandersetzt. Das passt, glaube ich, auch ganz gut zum Kolonialismus.
Mary Ehlebracht: Gibt es noch weitere Ursachen?
Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck: Ich glaube schon, dass es auch mit Wissen zu tun hat. Also, dass die Menschen, je weniger sie über die deutsche Kolonialgeschichte wissen, diese umso eher positiv sehen oder sich nicht so kritisch mit ihr auseinandersetzen möchten.
Und deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, die Geschichte des Kolonialismus, also auch globaler Perspektiven, noch mehr auf dem Lehrplan zu verankern.Tatsächlich erleben wir aber eine gegenteilige Entwicklung, nämlich, dass das Fach Geschichte tendenziell immer mehr zusammengekürzt wird und oft in Verbundfächern wie Gesellschaftskunde aufgeht und dann fachfremd unterrichtet wird. Das hilft meines Erachtens nicht, sich auf eine differenzierte Art und Weise mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, weil man dann schlicht und einfach zu wenig darüber weiß.
Mary Ehlebracht: Damit kommen wir nun schon zum Ende: Sie haben gerade schon gesagt, wie mögliche Perspektiven aussehen können und was sich ändern muss. Möchten Sie abschließend selbst noch etwas zu dem Thema loswerden?
Prof. Dr. Sarah Albiez-Wieck: Ich bin sehr froh, dass ich bei dem Projekt dabei war. Ich habe selbst sehr viel gelernt, viel über Münster, und ich fand es auch sehr bereichernd, die verschiedenen Perspektiven, die es in Münster gibt, kennenzulernen. Ich finde es toll, dass sie in dem Themenraum eine Plattform bekommen haben. Das ist auf jeden Fall ein wozu es weiterhin Debatten geben wird. Ich freue mich, wenn wir es geschafft haben, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, diese offen zu führen. Und, dass es uns hoffentlich gelungen ist, verschiedene Perspektiven auf das Thema zu zeigen, die den Menschen, die den Themenraum besuchen, helfen, ihre eigene Meinung und ihre eigene Position dazu zu finden.
Mary Ehlebracht: Vielen Dank für das Interview, Frau Professorin Dr. Sarah Albiez-Wieck.
Lora Sobolta: Ja, vielen Dank!
* Die Bezirksvertretung Münster-Südost hat am 09. Dezember 2025 die Umbenennung der Straßen beschlossen.