“Ich habe das Gefühl, dass wir mit unseren Kompositionen andere Welten erschaffen” – Derya Yıldırım und Grup Şimşek im Interview
Written by Carlotta Rölleke on 26. August 2024
Derya Yıldırım und ihre 2014 gegründete Band Grup Şimşek haben sich mit einer einzigartigen Mischung aus anatolischer Volksmusik, türkischer Psychedelia, Pop und Jazz einen Namen gemacht. Auf mittlerweile drei Alben und einer EP haben sie ihren ganz eigenen Sound entwickelt, der international begeistert. Jetzt, im Frühjahr 2024, haben sie in den USA ihr neues Album aufgenommen, bei dem auch viele Gäste mitgewirkt haben. Derya selbst ist eine echte Multi-Instrumentalistin: Schon als Kind lernte sie Klavier, Gitarre, Oud, Saxofon und Bağlama. Nach ihrem Studium in Hamburg und Berlin ist sie jetzt gemeinsam mit Graham Mushnik, Antonin Voyant und Helen Wells unterwegs, um ihre Musik in die Welt zu tragen. Wir haben sie auf dem Appletree Garden Festival live erlebt und Derya im Anschluss zum Interview getroffen.
Ihr seid ja hier auf dem Festival im Spiegelzelt aufgetreten, wie hast du den Auftritt in Erinnerung?
Das Konzert war total besonders, vor allem, weil das Publikum schon viel früher da war und gewartet hat. Das gefällt mir, weil ich glaube, wenn ich eine Band hören würde auf einem Festival, dann würde ich wahrscheinlich auch ein bisschen früher da sein, weil ich gerne den Anfang sehen würde. Dadurch dass der Strom ausgefallen ist und wir eigentlich auch gar nicht wirklich wussten, ob wir dann wirklich spielen, hat sich das alles nach hinten hinausgezögert. Und alle sind geblieben und das ist für mich wie eine kleine Liebeserklärung. Die Energie war ja auch unglaublich, als wir dann die ersten Lieder gespielt haben, habe ich ziemlich viel Energie vom Publikum gespürt.
Find ich auch, das Appletree-Publikum gibt den Künstler*innen immer eine richtig tolle Energie, ich habe die Menschen auch als sehr gute Crowd wahrgenommen.
Voll. Ich war auch ziemlich stolz darauf, dass es so viele deutschsprachige Musik auf dem Appletree gibt. Unsere Band ist sehr international: Graham Muschnick und Antonin Voyant sind Franzosen und leben auch in Frankreich mittlerweile. Helen Wells ist die Schlagzeugerin und kommt eigentlich aus Südafrika. Sie lebt aber in Berlin und irgendwie war das ziemlich cool, dass wir dann gefühlt haben: „Okay, das passiert also im deutschsprachigen Raum, diese Musik.” Und dann die auch live zu sehen und auch Teil von diesem ganzen Festival zu sein mit türkischsprachiger Musik, macht einen schon ein bisschen stolz als Hamburgerin.
Dieses Jahr war türkische Musik auf dem Appletree mit Engin, Lalalar und mit euch vertreten.
Es hat mich echt glücklich gemacht, drei türkisch oder türkisch-deutsche Acts zu sehen und zu wissen: „Okay, wir haben es geschafft!” Auf einem deutschen Indie-Pop-Festival drei Acts zu haben, die eigentlich ziemlich bekannt sind in der jetzigen heutigen Szene, dass man uns so an der Hand nimmt und uns den Raum gibt. Mir ist das sehr wichtig, weil ich aus Hamburg komme und in Deutschland geboren bin und meine Musik eigentlich hier entstanden ist. Auch wenn sie anatolische Hintergründe hat und ich auch das Volksinstrument aus Anatolien spiele, denke ich durchaus, dass das mit zu Deutschland gehört.
Du hast mal gesagt, dass die Baglama (türkische Laute) eigentlich in jedem türkischen Haushalt gespielt wird, ähnlich wie das Klavier in vielen deutschen Haushalten. Gibt es in der Türkei denn auch eine ähnliche Tradition der (bürgerlichen) Hausmusik wie in der westeuropäischen Musiktradition?
Es gibt durchaus Ebenen, die sich ähneln, aber der Ursprung ist auf jeden Fall anders. Ich kenne das ja selber von meinen Freunden, die eher mit deutscher Musikkultur zu Hause aufgewachsen sind. Dieses Bürgerliche gibt es in dem Sinne natürlich auch in der türkischen Kultur. Aber eigentlich gibt es unterschiedliche Ebenen. Die Baglama ist ein anatolisches Volksinstrument und sie ist sozusagen aus der Natur heraus geboren. Die Klänge, die Melodien, die Rhythmen, das ist alles eine Nachahmung der Natur. Angefangen mit den Rhythmen, die das Galoppieren der Pferde nachahmen soll und die Melodien, die eigentlich entstehen durch die Echos in den Bergen. Oder der begleitende Gesang: Wenn man auf der Baglama spielt, da geht es eigentlich darum, die Nachtigall nachzuahmen. Und das entsteht einfach zu Hause, wenn man gemeinsam im Wohnzimmer ist, dann gibt es immer irgendjemanden in der Familie, der die Baglama spielen kann.
Die Lieder, die gemeinsam gesungen werden, die sind so nah am Herzen, dass man einfach Teil dieses Liedes sein möchte. Da geht es auch auf einer anderen Ebene um das Kollektive-Beisammensein. Und selbst wenn das traurige Lieder sind, zum Beispiel, gibt es eine kollektive Trauer, bei der aber gar nicht so sehr Trauer, sondern eigentlich das Kollektive-Beisammensein im Vordergrund steht.
Bezeichnest du Türkisch deshalb deine “emotionale” Sprache?
Ja. Vielleicht sind das auch die krassen Gegensätze, die man zum Deutschen hat. Deutsch ist im Gegensatz zum Türkischen eine weniger metaphorische Sprache. Und ich habe immer viel Kombinationsfläche, wenn ich auf Türkisch denke, wenn ich auf Türkisch rede und singe und fühle oder träume. Da entstehen ganz andere Gedanken und Eindrücke, als wenn ich das auf deutscher Sprache mache.
Altin Gün und ihr covert beide auch Volkslieder und paart die mit einem psychedelischen Sound. Warum passt das so gut zusammen?
Das Genre anatolischer Psychedelik gab es schon seit den 1960ern in der Türkei. Diese Musiker haben ja bis in die 90er, bis in die 2000er weitergemacht mit ihrem Sound. Es ist also nichts Neues, was wir auf die Bühne bringen, weil so eine Musikrichtung schon existierte. Aber es ist ein Zusammenfinden von unterschiedlichsten Zeiten. Die Musik existierte schon damals, ich bin mit dieser Musik aufgewachsen und ich fand die schon immer toll. Auch wenn ich vielleicht die Uncoole war, die Baglama gespielt hat in der Schule, fand ich die Musik, die meine Oma gespielt hat im Wohnzimmer, immer schon cool.
Ich habe das Bedürfnis gehabt, gemeinsam mit den Gruppenmitgliedern von Grup Simsek diesen Sound weiterzuführen. Als ich Antonin Voyant und Graham Muschnick 2014 in Hamburg bei einem Theaterprojekt kennengelernt habe, kamen sie schon an mit ihrem Sound, beheimatet im Sound der 60er und 70er. Die Instrumente, die sie benutzen und die Amps, das ist ein ganz bestimmter Sound, dem sie folgen. Als wir uns dann zusammengefunden haben, gab es diese Synthese von unseren Geschmäckern. Und dadurch, dass ich Baglama spiele und Volksmusik singe, gibt es eine Relation zu den 60ern. Aber eigentlich wollen wir unseren eigenen Sound kreieren.
Wie komponiert ihr?
Wir haben keine bestimmte Methode, der wir folgen. Jedes Lied hat seine eigene Herangehensweise oder seine eigene Welt. Dadurch, dass wir in unterschiedlichen Orten leben und ziemlich unterschiedliche Lebensrealitäten haben, ist das gar nicht so wirklich möglich, dass wir uns regelmäßig treffen und komponieren.
Wir kreieren manchmal auch alleine die ersten Ideen und dann schicken wir sie uns gegenseitig zu. Manchmal tauschen wir Ideen beim Soundcheck aus und es gibt so einige Momente im Jahr, wo wir uns dann vor der Tour zusammentreffen. Dann proben wir entweder die neuen Lieder nochmal oder nehmen uns einige Tage Zeit, um die neuen Lieder einfach anzuspielen und zu schauen, ob man da weiter daran arbeiten kann.
Wie bei einer Single, die im September rauskommt, die heißt “Coolhand”. Dieses Lied ist durch eine willkürliche Improvisation entstanden. Eigentlich war die Probe zu Ende und wir wollten Pause machen, haben aber einfach drauf losgejammt. Dann gab es so eine kleine Sequenz, eigentlich fast schon ein Loop, das haben wir aus Versehen aufgenommen. Als wir dann im Studio waren und uns die Proben noch mal angehört haben, haben wir diese Sequenz am Ende gehört, diese kleine Improvisation. Irgendwie hat sie mir richtig gefallen und dann haben wir daraus ein Lied gemacht.
Ihr habt ja auch dieses Jahr ein neues Album aufgenommen, das kommt 2025 im Frühjahr raus. Dafür seid ihr in die US gereist – wie war das für euch?
Wir haben das Album in den ersten zwei Wochen im Juni aufgenommen, in New York, im Diamond Mine Studio, mit Leon Michels (produzierte unter anderem mit Norah Jones, Lee Fields oder Hanni El Khatib) als Produzenten. Das war ziemlich besonders, weil wir gemeinsam mit dem Produzenten an den Liedern weitergearbeitet und sie fertiggestellt haben. Wir haben bisher eigentlich nicht mit einem Produzenten gearbeitet, weil wir fast alles, von der Komposition bis zum Mixing, selber gemacht haben als Band.
Es hat richtig viel Spaß gemacht, dann plötzlich mit so einem Produzenten zu arbeiten, den man schon immer toll fand. Ich war schon immer ein großer Fan von Leon Michaels, von seiner Produktion und seiner Komposition. Umso schöner war es, dass diese Realisierung dann im Studio wirklich meine Erwartungen übertroffen hat. Wir waren echt wie eine Band zusammen. Er hat mit uns mitgespielt und die Lieder auf eine ganz besondere Art und Weise weiter geformt, gekürzt und verlängert und neue Melodien hinzugefügt. Es war schon ziemlich besonders.
In welche Richtung geht das Album musikalisch?
Es ist kein Konzeptalbum, sondern ein ziemlich persönliches Album. Wir sind an einem besonderen Punkt angekommen mit der Band. Der Sound wird natürlich ziemlich beeinflusst sein von der Produktion von Leon Michels. Dieser Vintage-Touch wird noch extremer sein als vorher, weil wir alles analog aufgenommen haben. Leon Michels ist ja bekannt dafür, dass man quasi alte Sounds modernisiert, wieder zur Erscheinung bringt, auf eine ziemlich coole Art und Weise. Aber ich habe auch das Gefühl, dass wir mit unseren eigenen Kompositionen andere Welten erschaffen haben. Sei es die Rhythmen, die sich verändert haben, die Grooves, die Melodien. Wir sind immer noch Grup Simsek, aber irgendwie klingt das alles ein bisschen anders. Ich habe das Gefühl, dass fast jedes Lied etwas Filmisches hat. Man kann echt viel imaginieren, wenn man die Lieder hört. Die Lieder sind aber immer noch sehr träumerisch. Sie lassen ganz viel Platz zum Imaginieren und zum Fühlen – es geht eigentlich oft um ernste Themen, die aber irgendwie manchmal mit so einer Leichtigkeit rüber gebracht werden können.
Ein abschließende Frage: wenn du dir ein Festival auf der Welt aussuchen könntest – egal wo und wann – bei dem du auftreten könntest, welches wäre das?
Ein kleiner Traum ist in Erfüllung gegangen vor einigen Wochen. Ich wollte schon immer auf dem Desert Daze Festival spielen. Und es hat geklappt: wir spielen genau dieses Jahr im Oktober dort. Das war so mein größter Traum, weil es ist ein Festival, wo ich das Line-up immer unglaublich gut finde und wo ich mich auch musikalisch wirklich sehr zu Hause fühle. Und ein Teil davon zu sein, ist was ganz Schönes für mich momentan.