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Münster war schön und nichts tat weh – Ein Konzertbericht über Caspers vergangene Tour

Geschrieben von am 25. Januar 2023

Ein von Blumen umhülltes Mikro, ein voll belaubter Baum und der Hintergrund getaucht in eine digitale Leinwand. Alles ist schön. Und nichts tut weh. Die Band lässt die ersten Töne des Intros an diesem 10. Dezember durch die Halle Münsterland klingen, Benjamin Griffey betritt die Bühne und das Publikum wird zur euphorisierten Masse. Musikredakteurin Neele Hoyer war für Radio Q mit dabei.

Support-Artist auf der AWSUNTW-Tour im Winter war Tua. Der Produzent und Rapper, der ursprünglich mit den Orsons bekannt geworden ist, hat sich in der Rap-Szene mittlerweile auch Solo einen Namen machen können. Rap, der abseits des Autotune-Mainstreams mit tiefgründigen Themen und einer vollen Stimme funktioniert und die Menge mitzureißen weiß. Tua, der mit bürgerlichem Namen Johannes Bruhns heißt, hat an dem Abend u.a. seine bekannten Songs “Wem mach ich was vor”, “Dana” oder “Melancholie” eröffnet. Dabei berührte er nicht nur gefühlvoll und melancholisch die Herzen, sondern konnte damit sicher auch seine Monthly-Listener-Zahl erhöhen. Ich war da bereits überzeugt. 

Tua – Wem mach ich was vor

Ein weiteres Highlight war die Casper- und Crew-picked-Playlist, die die anfängliche Wartezeit vor Tua sowie den Umbau von Tua zu Casper untermalte. Mit dabei waren unter anderem “As it was”, “Blank Space” oder “Teenage Dirtbag” – spätestens bei Teenage Dirtbag grölte das gesamte Publikum mit und ließ sich treiben. Der letzte Song vor Beginn der Show war der Soundtrack zu “Addams Family”. Man braucht kein großer Musical-Fan zu sein, um den Song zu kennen und zu lieben. Und als der eine oder die andere darüber grübelte, dass schräg und einzigartig zu sein doch eigentlich viel schöner ist, als vermeintlich perfekt zu sein, öffnete sich der Vorhang.

Wer die Playlist nachhören möchte, um die Spannungskurve der Wartezeit nachzufühlen, der kann diesem Link folgen:

Das Intro erklang mit seinen ersten Tönen – und wie könnte es auf dieser Tour anders sein: Der erste Song war “Alles war schön und nichts tat weh”. Die Streicher begannen und die Herzen wurden schwer und leicht: beides gleichzeitig. Das Klavier und der Backgroundgesang setzten ein und Gänsehaut kam auf. “Ich hab heute wieder dran gedacht, dass ich mir zu viel Gedanken mach.” Alles war schön! Und weil dieser Opener mit bunten Visuals und einem beleuchteten Baum auf der Bühne nicht schon genug Potenzial bot, sich in Benjamin Griffey, die Band und den Abend zu verlieben, folgte darauf der Song “Im Ascheregen”. Dieses Gefühl, in der Masse zu stehen, in leuchtende Augen zu schauen und zu wissen, dass Viele gerade den Abend ihres Jahres haben, erfüllte mich. Die Beats werden eins mit jeder*m Einzelnen vor der Bühne. So beherrscht Casper seine Kunst.

Live-Musik kann je nach musikalischem Verständnis durchaus mal enttäuschend sein. Gerade Rap, der sich abgemischt aus dem Studio immer gut anhört, aber live manchmal eine Vorführung der Möglichkeiten von Autotune mit eher langweilig performenden Künstler*innen ist, wird von Casper revidiert und neu interpretiert.

Casper ft. RTO Ehrenfeld – “Fabian” | ZDF Magazin Royale

Neuanfang: Dafür steht das Album, der bunt blühende Baum auf der Bühne, die Visuals. Und schon beim ersten Durchhören fällt einem auf – das hier ist anders. Casper bricht mit AWSUNTW mit dem melancholischen, dunklen Sound, der ihn so lange umgab und für den man ihn lieben oder hassen durfte. Das neue Album ist farbenfroher, positiver, geradezu mutmachend. Zwar lässt es die ernsten Probleme der Gesellschaft wie mentale Gesundheit, schwere Krankheiten oder Krisen der heutigen Zeit nicht aus – im Gegenteil, Casper begegnet diesen reflektiert aufarbeitend und mit optimistischem Ausgang.

Deutlich wird das beispielsweise an der Art, wie die Visuals im Hintergrund während der Songs immer wieder eine Handlungsempfehlung aussprechen, wie sich die Menge verhalten soll, und was die Gesellschaft braucht. “Awareness” ist die dafür treffende Beschreibung und ehrlich gesagt hat es mich persönlich sehr berührt. Denn nur so können wir uns selbst und in der Gesellschaft weiterentwickeln: indem wir für das objektiv Richtige einstehen und uns umeinander sorgen und kümmern, auch mental. Chapeau für diesen Schritt. Von Bands und Künstler*innen à la Casper oder Kraftklub, bei denen die Auftritte bisher schon “more aware” waren, brauchen wir noch viel mehr! 

So steht nach Ende eines Songs “Jin, Jiyan, Azadi” auf der schwarzen Leinwand: “Women, Life, Freedom” zur Unterstützung des Gerechtigkeitskampfes von FLINTA* im Iran.

Auch der Song “Billie Jo” wurde mit Zitaten auf der Leinwand gerahmt. Er erzählt die Geschichte eines US-amerikanischen Soldaten, der mit einer PTBS (posttraumatischen Belastungsstörung) und einer Heroinsucht, um Erlebtes zu kompensieren, aus dem Irak-Krieg zurückkam. Er beging erweiterten Suizid an sich und seiner Familie mit zwei Kindern, weil er die Last nicht tragen konnte. Diese Tragik spitzt sich durch den Fakt zu, dass Casper durch familiäre Hintergründe mit der Geschichte verbunden ist. Während des Songs taucht die Leinwand in ein großes, rotes Zitat: “War can never be the answer” von Fela Kuti. Mit verwobenen Referenzen und einer enormen Detailverliebtheit beweist Casper erneut sein Geschick und seine Liebe zur Sprache. Zum Outro des Songs, in dem die Tat des Hauptcharakters beschrieben wird, wird auf der Leinwand das Tocotronic-Zitat zum gleichnamigen Song “Nie wieder Krieg” eingeblendet.

Und weil die Konflikte global und national so vielfältig sind, erhält eine weitere wichtige Thematik zentral Einzug in den Konzertabend: psychische Erkrankungen, i.B. Depressionen. Der Song “TNT”, den Casper gemeinsam mit Tua als Singleauskopplung und auf seinem letzten Album veröffentlicht hat, dreht sich um genau dieses Thema und um die eigenen Erfahrungen der beiden. “Ich will abspringen, halt die Welt an” oder “Jedes bisschen ein Kraftakt” sind Zeilen aus dem persönlichen Song, die statistisch gesehen jeder 5. bis 6. Mensch an diesem Abend nachfühlen kann. Trotz des schweren und anspruchsvollen Themas schaffen es Casper und Tua einen positiven Ausgang zu schaffen, indem sie die Lage als kritisch und hart, aber bezwingbar darstellen: “Ob das noch lange gut geht? Ey, hoffentlich

CASPER – TNT – FEAT. TUA (OFFICIAL VIDEO)

Der Song endet mit einem rein instrumentalen Teil, bei dem Casper auf der Tour zusätzlich ein Video über Statistiken, Krankheitsbild und Anlaufstellen für Hilfe bei einer akuten depressiven Erkrankung abspielen ließ. Wer selbst mentale Probleme und Krankheiten hat, für den war das ein erlösender weiterer Schritt zur Entstigmatisierung. Und der Jubel war dementsprechend groß. Zumindest in diesen 2 Minuten des laufenden Videos haben sich Betroffene hoffentlich verstanden und unterstützt gefühlt. Das sah man beim nach links und rechts in die Menge schauen auch deutlich.

Der Abend war ein Best Of der Casper-Songs, die man einfach mal live gehört haben muss! Es wurde wild gemosht, sehr viel getanzt, die Arme waren öfter im Himmel als unten und man vermisst es, sobald der letzte Ton verklungen ist. Wem die Musik alleine nicht reicht, der lernt bei jedem Casper-Konzert einen unfassbar sympathischen Benjamin Griffey kennen. Anfang Dezember hatten naturgemäß einige im Publikum Schokonikoläuse dabei, die sich ihren Weg zu Casper bahnen sollten. Als er das bemerkte, fing er zwischen seinen Songs an, mit dem Publikum zu quatschen und ließ sich die Nikoläuse nach vorne werfen, allerdings nur im Tausch gegen ein Selfie. Das ließ er sich nicht nehmen und so gaben Einzelne auch gleich ihr Handy mit durch, welches er nach erfolgreichem Selfies schießen geschmeidig zur dazugehörigen Zuschauerin zurückwarf. Riskant, aber mit gutem Ende lauschten alle danach glücklich den nächsten Songs.

Der Abschlusssong an diesem Abend war “Hinterland”, sein wohl bekanntester Song. Für die meisten im Publikum ist dieser Song mit so vielen Emotionen verbunden – immerhin begleitet er viele, mich eingeschlossen, bereits seit 2013. Was meine Jugend ausgemacht hat, hat Menschen um mich herum vielleicht in ihren schwersten Zeiten im jungen Erwachsenenalter oder beim Settlen mit Mitte/Ende zwanzig begleitet . Selbstverständlich wurde lauthals mitgesungen, von vorne bis hinten, und selbst als der letzte Ton der Band verklungen war, trug die Crowd die “Ohs” am Ende mehrere Minuten lang weiter. Bis der Vorhang für die Zugabe zu- und wieder aufging.

Casper – Hinterland

Wie also war Caspers Tourstopp in Münster im Rahmen seiner “Alles war schön und nichts tat weh”? Berührend, elektrisierend, wunderschön. Und im Gegensatz zur namentlich gleichen Tour im Frühling 2022 noch um einiges besser. Jedes Mal hat man das Gefühl, diese Tour war wieder größer, schöner, besser als alles Vorangegangene. Eins ist jedoch immer gleich – man fühlt sich sicher in der Masse von Menschen, die eine Liebe teilen: Die Liebe zu Casper und zu seiner Musik mit Charakter, Emotionen und dröhnenden Bässen. Schaut euch das Spektakel an, wenn ihr mal die Chance dazu habt!

Münster war schön und nichts tat weh.