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Vomit Heat – Second Skin

Rezensiert von am 8. Mai 2022

       

Ein früher Maimorgen in den Münsteraner Rieselfeldern. Unweit dem tosenden Treiben der Stadt bildet hier vor allem das Zwitschern der zahlreichen gefederten Bewohner*innen einen gänzlich konträren Klangteppich, der in dieser noch kühlen morgendlichen Stimmung kurz nach Sonnenaufgang nur hin und wieder durch das Brummen eines weit entfernten Autos durchbrochen wird. Zwischen zwei gerade grünenden, krummen Apfelbäumen macht sich eine achtköpfige Familie von Kanadagänsen auf den Weg in das Zentrum dieses Vogelparadieses, auf in das kühle Nass. Doch in ihrer Formation hin zum Wasser hat das kleinste der Küken immer wieder Mühe, mit den unermüdlich trommelnden Schritten seiner Geschwister mitzuhalten. Und als dieses zierlichste Mitglied das Tempo seiner eigenen schnellenden Füße gerade falsch eingeschätzt hat und plötzlich das strahlende Grün der Wiese statt den eben noch wippenden Federn seiner Artgenossen betrachtet, löst sich aus dessen flaumigem Federkleid eine feine, winzige Feder. Mit dem bloßen Auge fast nicht erkennbar, wird diese zarte Feder von einem frischen Luftstoß ergriffen und schraubt sich in einer fast schon tollenden Bewegung zylinderförmig in die Lüfte. Nahezu unbemerkt wird der abenteuerlustige Tanz der Gänsefeder nun untermalt von einem spielenden, absteigenden Gitarrenriff, in das, ganz natürlich, elektronische Gitarrenakkorde, ein erwartungsvolles Schlagzeug und eine scheinbar mühelos sanfte, hallende Stimmte einsteigen.

Second Skin heißt das zweite Studioalbum des Kölner Kunstschaffenden Nils Herzogenrath alias Vomit Heat. Nach dem 2016 erschienenen Spirit Desire ist sein neustes Release vor allem eine Hommage an die Musik, die der Connaisseur Herzogenrath als seine zweite Haut versteht – und so entsprechen auch alle Titel auf der Platte unmittelbar dem persönlich Erlebten des Musikers. Musikalisch steigt Second Skin mit dem Opener I’m Over You zwar relativ klassisch Indiepop-lastig ein, das perfekt harmonisierende Soundbett der wenigen eingesetzten Elemente und die federleicht-anschmiegsame Stimme Herzogenraths aber verraten schon eine Tendenz zum Dreampop und Shoegaze – der im folgenden Track Dematerialize schließlich nachgegangen wird. Ein sich stets wiederholendes Gitarrenriff, nun etwas rauer im Klang, wieder gemeinsam mit der unglaublich dynamisch eingesetzten Stimme von Vomit Heat bilden hier einen wirklich dichten Klangteppich, der gegen Ende nur noch von einer verzerrt-klirrenden E-Gitarre durchdrungen wird. Soundtechnisch erinnert Dematerialize an Shoegaze und Dreampop-Bands der 90er- und 2000er-Jahre wie Broadcast oder Spiritualized, gemischt mit moderneren klanglichen Experimenten wie Tame Impala.

Unsere mutige Gänsefeder hat indes ihre einstige Vogelfamilie zwischen dem bunten Umhertollen in der mittlerweile warmen Mittagsluft vollkommen aus dem Blickfeld verloren. Vor dem leuchtend hellblauen Frühlingshimmel, der hin und wieder von strahlend weißen Kondenzstreifen durchzogen ist, klingen von unten in Wellen Kinderstimmen empor: Auch an diesem Wochenende sind die Rieselfelder beliebtes Ausflugsziel für Münsteraner (Menschen-)Familien. Und so passiert es, dass unsere Feder, umringt von hunderten quietschlebendigen Insekten, in einen üppigen Himbeerstrauch niedersinkt und sich, wie sollte es anders sein, zwischen zwei Blättern verfängt. Kaum hat sie sich aber mit diesem neuen Aufenthaltsort angefreundet und die benachbarten Löwenzahnpollen begrüßt, schießt auch schon ein in etwa vierjähriger, blonder Junge mit wilden Sommersprossen vorbei und schnappt sich die Feder unter lauten “Mama Mama, guck her, was ich gefunden habe!”-Rufen.

Der Soundtrack dieser Federreise wird nun deutlich tosender und klirrender, eine Gitarre setzt ein, die mit jedem scheinbar denkbaren Effekt verzerrt zu sein scheint – Anxiety widmet sich voll und ganz dem Shoegaze der 90er-Jahre. Der Track scheint wie eine eindeutige Hommage an die irisch-britische Band my bloody valentine, die dieses Genre gemeinsam mit anderen Namen wie Slowdive oder Lush prägten. Auf Anxiety tut sich Vomit Heat zusammen mit den Kölner Musikerinnen Vaovao und Elisa Kühnl – entstanden ist hier ein wirklich gelungener Track, der es perfekt schafft, auf dem sehr schmalen Grat zwischen kompletter Distortion und zarter Intimität, den der Shoegaze ausmacht, zu balancieren.

Und auch unsere Gänsefeder balanciert mittlerweile schon seit einer ganzen Weile wieder in vollkommener Freiheit, denn der vergnügte Junge fand mit dem angrenzenden Aussichtsturm ziemlich unmittelbar nach seinem Fund eine spannendere Beschäftigung – was nicht zuletzt wohl auch mit dem klaren Desinteresse seiner Eltern an der Feder zutun haben mochte. Munter umherwippend und getragen von immer wieder aufkommenden Windböen hat es unsere zierliche Protagonistenfeder also derweil tatsächlich bis zum Münsteraner Kanal geschafft – auf den sie sich jetzt in wiegenden Bewegungen, erschöpft von der langen Reise, hinablässt. Vollkommen zufrieden auf der kühlen, glitzernden Wasseroberfläche, die nur manchmal von Wellen vorbeirudernder Boote durchbrochen wird, schwimmt sie nun stadteinwärts und genießt das schallernde Gelächter und die laut wabernde Musik der abendlichen Kanalbesucher*innen. Zum Ausklang ihres Trips erklingt die achteinhalb-minütige letzte Nummer auf Second Skin. Gemeinsam mit der Ruhrpott-Band International Music unternimmt dieser überraschende Closer einen letzten Turn in Richtung Krautrock – und die Stile der Musiker vereinen sich hier unter trommelnden Rhythmen und experimentell eingesetzten Synthesizersounds perfekt.

Second Skin ist ein wahnsinniges gelungenes Album, auf dem Vomit Heat es in scheinbar spielender Art und Weise schafft, sämtliche musikalische Einflüsse mit intimen Lyrics und durchdacht produzierten Soundelementen zu kombinieren. In das dabei entstandene dichte Klangbett dürfen sich Hörer*innen sorglos fallen lassen – ein wirklich hörenswertes Projekt, für das es sich unbedingt lohnt, Vomit Heat und auch das dahinterstehende Independent-Label Ana Ott aus Mühlheim an der Ruhr zu unterstützen.


Label: Ana Ott
Veröffentlicht am: 06.05.2022
Interpret: Vomit Heat
Name: Second Skin
Online: Zur Seite des Interpreten.


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