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The Notwist – Vertigo Days

Rezensiert von an 1. Februar 2021

       

“World is burning/But I know what it means/Be in an ice age”

In den letzten Monaten haben zahlreiche Künstler*innen versucht, das Gefühl dieser Pandemie in ihre Musik zu transportieren. Songs über Hygiene-Maßnahmen, Videokonferenzen, Vermissen von Freunden und Familie, all das wurde irgendwie ausgedrückt, mal mehr, mal weniger gelungen. Aber was ist mit dem unendlich langsamen Verstreichen von Zeit? Dem Verwischen von einem Tag in den nächsten, zwischen denen man irgendwann die Orientierung verliert, weil sich jeder Tag so gleich anfühlt. Dem Suchen und Warten auf einen Ausgang und dem Abtauchen in “Vertigo Days”, schwindlige, noch nie vorher so wahrgenommene Tage? Der Sound für diesen Zustand hat bisher gefehlt.

The Notwist schaffen es, diese Tage, Monate des Schwindels, der Orientierungslosigkeit in der Welt auf ihrem neunten, so passend benannten Album einzufangen. Seit 30 Jahren machen die Brüder Markus und Micha Acher mal mit Andreas Haberl und hier mit Cico Beck gemeinsam Musik. Gestartet als Hardrock-Schulband im konservativen Bayern, orientierten sie sich musikalisch in alle möglichen Richtungen: Electronic, Ambient, Jazz und vor allem zum Inbegriff der deutschen Indierock-Szene. Ganze sechs Jahre haben sich The Notwist für ihr neues Album Zeit genommen, und auch hier schlägt die Band wieder neue Wege ein. So wenden sie sich an manchen Ecken dem Hip Hop zu und bezeichnen “Vertigo Days” im Sinne dieses Genres auch eher als Mixtape, auf dem sie andere Musiker*innen vorstellen und Stile miteinander vermischen.  

Die “Tage des Schwindels” beginnen mit Trommelschlägen, schiefen, einzeln gesungenen Tönen, Hupen, die zu einem vermorphten, fast unerträglichen Noise-Sound (Al Nord) werden, der sich in den ersten Tönen von Into Love/Stars dann in sanfte Klavier- und Xylophonklänge ergießt. Man blickt nach draußen aus dem Fenster in den Nachthimmel und ist in diesen unendlichen Tagen der Isolation an einem Punkt, an dem man mit sich selbst spricht und Fragen in den Raum stellt: “How did you know the stars ain’t fixed/ the roads ain’t straight?”. Der Gesang von Saya Ueno steigt in ein wunderschönes Duett mit Marcus Archa ein, und dann nimmt ein elektronischer Beat fahrt auf. Eine Reise geht los, man verlässt gedanklich das Zimmer und schwebt durch den Nachthimmel. Eine warme positive Sehnsucht hüllt einen ein, vielleicht so etwas wie Hoffnung. Die dann wieder in den letzten verwaschenen LoFi-Klängen des Songs umschlägt in eine zerstörerische Wut. Diese bildet den Anfang und übergang zur Exit Strategy To Myself: “Automatic all alone/ I’m not on the phone/ I’m just talking to myself”, diese verwaschenen Lyrics legt Sänger Marcus Archa unter so viel Hall und Verzerrung, dass es schon fast wehtut, weil dieser Sound einen mentalen Breakdown, gefangen im Strudel aus Antriebslosigkeit und virtueller Überflutung, so perfekt in Töne fasst. 

“Vertigo Days” beschreibt vielleicht auch eine Trennung von einer Episode im Leben innerhalb des Lockdowns. Das Flüchten in verschiedene Erinnerungen, ein optimistisches Aufwachen aus der eigenen Starre und das erneute Versinken in dieser, während Instrumente die Brücken von einem Song zum nächsten bilden. Kuhglocken und Drums leiten vom mit Indierock angehauchten Where you find me now zu Ship, wo über einen energischen Krautrock-Groove Saya Ueno, die Sängerin vom japanischen Duo Tenniscoats leicht verträumt das Bild eines Raves am Hafen malt. Die Tenniscoats sind nur ein Teil von den Musiker*innen, mit denen The Notwist auf “Vertigo Days” zusammenarbeiten, und die jeweils aus dem eigenen Homestudio Töne über die Welt schickten. Ein bisschen wie ein Ausflug aus dem eigenen Zimmer, in das einen Loose Ends aber dann mit einem schwirrenden Akkord, langsam eingeblendeter und dann die anfängliche Melodie überlageneder Klangfläche wieder zurück holt. Der Blick aus dem Fenster verschwimmt in alle möglichen Enden des eigenen Geistes. Ganz ihrem ursprünglichen verwaschenen Indietronic treu, aber mit einer wärmeren und sehr melancholischen Note wird hier eine fast existenzielle Frage nach dem Leben gestellt, die in einem unendlichen Grunge-Gitarrenriff endet.

Darauf folgt mit Into the Ice Age einer der Höhepunkte des Albums: nach einer jazzigen ersten Hälfte, mit Klarinette von Angel Bat David aus Chicago scheint dieser Song dann durch eine schleichende Verlangsamung von Rhythmus und Gesang tatsächlich einzufrieren. Vor dem Fenster sind keine Sterne mehr, sondern nur noch Eiskristalle. Der dumpfe, ein bisschen wie weit unter dem Meer klingende Sound, über den sich sanft die Klarinette legt, schottet einen langsam aber sicher von der Außenwelt in den Winterschlaf ab. Oh Sweet Fire erwärmt mit einer Prise RnB, über den flirrende Streicher gelegt werden, das eigene Zimmer dann wieder. Dazu kommt der Gesang von Ben LaMar Gay von Chicagoer Jazzlabel International Anthems, der hier HipHop und elektronischer Elemente zu einer Liebesgschichte während einer Black-Lives-Matter Demo verbindet. 

Sans Soleil kommt wie ein Sonnenstrahl auf diesem Album, einfache Folkgitarre, leise Flöten, Schellen und Bläsern mit Bon Iver Vibes geben Hoffnung, dass man tatsächlich aus diesem Taumel auftauchen kann. Es ist der Anfang von einem Aufbruch in den letzten Songs von “Vertigo Days”. Nach Nights Too Dark kommt ein funkelnder sprichwörtlicher Blick in die Sterne, “stars”, gemorpht mit verzerrten Stimmen wie aus einer Funkantenne kommend und einem einsetzten Beat mündet das in die erste Klammer des Albums: Al Sur, zum Süden getrieben von energischen Beats und Gesang von Juan Molina aus Argentinien. Nach dieser Explosion kommt der großartige Closer, die zweite Klammer von “Vertigo Days” mit Into Love Again und der gleichen Feststellung nach den nicht-festen Sternen. Aber der Blick aus dem Fenster auf das Draußen, die dahin gleitende Nacht zu leiser Mundharmonika ist anders. Die Trommeln schlagen aus und eine neue Episode nach diesem Schwindel scheint zu beginnen. 

So ist “Vertigo Days” ein wunderschön atmosphärisches Album, eine Vielstimmigkeit aus Stilen, Klänge und vor allem Gedanken. Das alles wächst zu einem knapp 45-minütigen verwobenen Gedicht zusammen, in dem The Notwist sich nach all den Jahren nochmal selbst erfinden. Und dabei jungen Musiker*innen mit eigenen Stilen ein Bühne geben, sich selbst zurücknehmen und doch den Kleber bilden durch den die Tage des Schwindels eingefangen werden.

 


Label: Morr Music
Veröffentlicht am: 29.01.2021
Interpret: The Notwist
Name: Vertigo Days
Online: Zur Seite des Interpreten.