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Stephen Stills Live at Berkeley 1971

Rezensiert von am 16. April 2023

       

Als Musik-Nostalgiker hat man es nicht leicht. “Ja klar war das gut, aber das ist doch Jahrzehnte her… die Zeiten ändern sich”, hört man da. Und wenn sie ganz fies sind, rammen sie dir noch ein hämisches “Hat doch schon Dylan damals gesungen: The times they are a-changin’.” ins Herz. Danke auch für nichts!

Also, wie verteidige ich jetzt hier nicht nur meine persönliche Musik-Nostalgie, sondern mache sie auch euch schmackhaft? Probieren wir es mit einem philosophischen Ansatz: Musik ist ein Vehikel, um mal aus dem aktuellen Geschehen auszubrechen, sich völlig davontreiben zu lassen und zumindest im Herzen in eine andere Welt zu reisen. Dass wir dafür keine psychedelischen Wahnsinnskonstruktionen brauchen, beweist mehr als eindrucksvoll Stephen Stills. Der ist inzwischen uralt und meilenweit von seiner Topform, gerade gesanglich, entfernt. Da bleibt uns gar keine andere Wahl als nostalgisch zu werden.

Bevor wir in die Musik dieses Live-Albums von 1971 eintauchen, ein kleiner musikhistorischer Umriss: Stephen Stills wird bekannt als Frontmann von Buffalo Springfield. 1969 gründet er mit Byrds-Sänger David Crosby und Graham Nash von den Hollies die Supergroup CSN. Kurz darauf kommt ein weiterer Buchstabe hinzu: Das Y ist Buffalo Springfield-Kollege Neil Young. Alles, was die Jungs in jeder erdenklichen Kombo machen, wird zu Gold: Zweiter Auftritt der Band ist direkt Woodstock, 1974 kommt die erste ausverkaufte Stadion-Tournee (das hatten vorher nicht mal Elvis oder die Beatles geschafft). Das pusht das eh schon große Ego der Jungs natürlich enorm. Es gibt zahlreiche Soloprojekte. Stills knallt innerhalb von sechs Monaten zwei Platten auf den Tisch. Die Namen, passend zum angesprochenen Ego: Stephen Stills und Stephen Stills 2. Großartige Alben!

Im August 1971 beendet Stills seine Solo-Tour im Berkeley Community Theater in Kalifornien. Nachdem er auf der Tour unter anderem im New Yorker Madison Square Garden gespielt hat, ist das Community Theater eine doch überraschende Wahl mit seinem Platz für maximal 3.500 Menschen. Doch diese Atmosphäre schafft eine Intimität, die Stills’ wahrlich herausragendes Können an der Gitarre umso besser ins Licht rückt. Die erste Hälfte des Konzerts ist nur mit Klavier und Akustikgitarre bestückt. Ein angenehmer Kontrapunkt zu den teils doch komplexen Arrangements der Studio-Produktionen (Wobei die Komplexität sich hier auf die Anzahl an Instrumenten bezieht – Stills saß wie für ihn üblich allein im Studio und spielte fast alle Instrumente selbst ein). Stills gleicht mit seinem Gesang in “Love The One You’re With” die fehlende Hammond-Orgel so gut aus, dass wir das Fehlen dieses himmlischen Instruments fast überhören.

Es bleibt erstmal so ruhig und träumerisch, doch auf einmal werden wir hellhörig. Stills kündigt einen alten Freund an. Auch wenn wir nur Hören, spüren wir schon wie ein schnauzbärtiger Teddy die Bühne betritt. Der Gesang von David Crosby schmiegt sich bei “You Don’t Have To Cry” und “The Lee Shore” so sanft um das Gitarrenspiel von Stills, und wenn ich dann daran denke, dass Crosby in diesem Jahr von uns gegangen ist, dann zieht es mir emotional einfach mehrere Hautschichten vom Leib.

Genug der Tränen – mit “Word Games” ist Stills dann wieder solo unterwegs. Dabei liefert er speziell im Finale des Songs gesanglich eine Leistung ab, die uns mit einem kräftigen Tritt aus den Tagträumen reißt. Auch bei der Kombi aus “49 Bye-Byes” und dem Buffalo Springfield-Hit “For What It’s Worth” ist trotz der minimalen Instrumentierung ordentlich Dampf in der Musik. Wir sind jetzt hellwach und es folgt für die Freunde des Saitenzupfens Stills’ Meisterstück: “Black Queen” mit Stills an der Gitarre. Da macht ihm keiner etwas vor.

Ab “Bluebird Revisited” erleben wir dann einen Umbruch in diesem Live-Album. Jetzt kommen deutlich mehr Instrumente auf die kleine Bühne in Berkeley. Die Intimität wird im wahrsten Sinne des Wortes von den Memphis Horns weggeblasen. Bevor wir uns über den doch recht plötzlichen Wechsel der Atmosphäre beschweren können, hält uns in diesem Vorhaben der Respekt vor diesem absurd sauberen Spiel der Beteiligten auf der Bühne auf. 

Ein ganz besonderes Highlight bekommen wir noch einmal kurz vor Schluss. Der Song “Cherokee” ist auf Stills Debütalbum keine 3:30 Minuten lang – hier sehen wir aber fast zehn Minuten. Unsere leicht hochgezogene Augenbraue wird in dieser Live-Version von “Cherokee” ganze Berge erklimmen. Was die Bläser hier abliefern, ist ein wahrlicher Sturm und in Worten nur schwer zu beschreiben.

Zum Schluss des Albums darf hier auch noch Kritik geäußert werden. Die “Band Introduction” ist zwar ganz nett, aber zwischen dem Bläserspektakel in “Cherokee” und dem ebenfalls von wildem Blasspiel geprägten Finale Furioso “Ecology Song” bringt sie einen doch zu sehr raus. Verkehrshubbel machen in einer Spielstraße Sinn, aber auf dieser Musikfahrt will ich in der zweiten Hälfte einfach das Pedal durchgedrückt lassen.

Was bleibt uns als Fazit? Machen wir uns nichts vor – bei größerer Konkurrenz würde hier eine Rezension zu einem deutlich moderneren Album stehen, und das auch zu Recht. Aber wenn sich der Platz für Nostalgie anbietet, dürfen wir auch gerne als Zwischenspiel die Vergangenheit hochleben lassen. Und wenn sie sich dann anhört, wie Stephen Stills im Community Theater von Berkeley, dann können wir seinen Leitspruch einfach noch einmal dick unterstreichen: Love The One You’re With!


Label: Omnivore Recordings, The Orchard / Bertus
Veröffentlicht am: 14.04.2023
Interpret: Stephen Stills
Name: Live At Berkeley 1971
Online: Zur Seite des Interpreten.


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