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Molchat Doma – Monument

Rezensiert von am 15. November 2020

       

Auf den ersten Blick mutet es höchst ungewöhnlich an, dass eine weißrussische Darkwave/Synth-Pop Band im Jahr 2020 der letzte Schrei bei Jugendlichen auf sämtlichen sozialen Netzwerken und besonders der Video-App Tik-Tok ist. Doch wagen wir einen tieferen Blick und tauchen in die Essenz dieser Band ein, scheint uns weißrussischer Darkwave als Teenage-Hype gar nicht so fern.

Um Molchat Doma zu verstehen, müssen wir nicht ihre Texte übersetzen (die Band singt durchgehend auf Russisch) – was die Band ausmacht ist ihr Wesen, angereichert durch hauntologischen Mythos der kommunistischen Utopie

Kapitalistischer Realismus kann als der Glaube beschrieben werden, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt.

Mark Fisher, Kulturwissenschaftler [2]

Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sprach nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom „Ende der Geschichte”[1], der neoliberale Kapitalismus brauche sich nun keinem konkurrierenden System mehr zu stellen. Der Kulturwissenschaftler Mark Fisher beobachtete weiter, dass Menschen nun einen kapitalistischen Realismus verinnerlichen würden. „Kapitalistischer Realismus kann als der Glaube beschrieben werden, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt.”[2] Kurz gesagt: Aufgrund mangelnder Gegenutopien wird der neoliberale Kapitalismus „geschluckt”. Selbst wenn die Menschen sich bewusst sind, dass dies nicht das beste System sei, wird sich ihm angepasst und es akzeptiert, da es schließlich aktuell keine bessere Alternative gebe. Zurück bleibt ein Ohmnachtsgefühl. So liegt es auch in den Händen der Kunst Alternativen aufzuzeigen. Die Gegenutopien werden dabei umso häufiger nicht selbst für die Zukunft neu imaginiert – verbreiteter ist heute die „Heimsuchung” durch vergangene utopische Ideen in der Kunst. Ein Grund dafür ist, dass Geschichte auch ihre Linearität verloren hat. Es gibt kein kontinuierliches Aussterben von Musikstilen und keine konsequente Weiterentwicklung von Musik mehr. Durch Streamingdienste, YouTube und co. können wir auf die Musik beliebiger Jahrzehnte bis tief in die Nischen zurückgreifen. Die Vergangenheit ist omnipräsent. Das kann zum bloßen Nachspielen von Classic Rock ohne doppelten Boden führen oder zur bewussten Herausarbeitung utopischer Momente in vergangener Kunst. Ein Künstler wie Burial versucht die Subversion der 90er Rave-Szene in einem Sound einzufangen, der durch Hall, Vinylknistern und Sampling wie ein Geist der Rave-Ideale von Freiheit, Internationalität und Einheit in das 21. Jahrhundert überschwappt – eine Zeit in der Rave nicht mehr als Jugendbewegung bezeichnet werden kann. Fisher verleiht dieser „Heimsuchung” den Begriff „Hauntology”[3].

Anhand dieser verkürzten Zusammenfassung des hauntoligischen Ideenbegriffs (der eigentlich bereits auf Derrida zurückgeht) lässt sich der Mythos Molchat Doma – und es ist wie eingangs erwähnt besonders der kommunistische Mythos, den diese Band ausmacht – besser erfassen.

Einen ersten Eindruck des Mythos verspüren wir beim Anblick der Albumartworks der Band. Diese präsentieren jeweils ein brutalistisches Gebäude aus Sowjetzeiten. Dem Design des Hotels auf dem Artwork des 2018 erschienenen „Этажи” wohnt ein absurder Retro-Futurismus inne. Absurd, weil für westliche Augen ungewohnt. Die kyrillischen Buchstaben in Verbindung mit den abgebildeten Oldtimern verweisen auf die Sowjetunion und präsentieren somit einen Futurismus, der in westlichen Augen auch vor allem deswegen absurd erscheinen mag, weil gerade in konservativen und liberalen Kreisen die Sowjetunion zuhauf als rückständig angesehen wurde und vor allem wird. Allein dieses Artwork mag zu einer Beschäftigung mit dem Katalog der Band einladen. Bis heute ist das 2020 von Sacred Bones weltweit wiederveröffentlichte „Этажи” das erfolgreichste Album der Band und ihr viraler Durchbruch. Bei „Monument” ist das Artwork nun deutlich radikaler. Auf dem abgebildeten Monument recken drei Betonfäuste ihr Arbeitswerkzeug in die Höhe. Der Verweis auf die Sowjetunion muss nicht mehr groß hergeleitet werden, sprich, das Artwork zeigt in welchem Raum und welcher Zeit sich die Musik verortet.

Der Höreindruck ist in positiver Weise ungewohnt, da das Genre des Darkwave und die Goth Szene generell stark mit englischsprachigen Bands wie The Cure, Bauhaus und co. verbunden ist. Allein die russische Sprache wirkt im Kontext dieser Musik erfrischend anders, die Spielfreudigkeit der Synthesizer auf einem Song wie „Дискотека (Discoteque)” zieht sofort in ihren Bann. Die Imagination einer Sowjet-Diskoszenerie wird aufgemacht, in der es egal ist, ob sie jemals in dieser Art und diesem Sound existiert hat. Auf dem Dancefloor herrscht eine befreite Mischung aus Schwermut und Euphorie. Gefühle existieren dort, wo der westliche Imperialismus immerzu versucht hat das Bild des kalten Russen zu zeichnen und ihm so einen Teil seiner Menschlichkeit abzusprechen. 

„Обречен (Obrechen)” ist der Slowed Down Soundtrack für die Letzte Runde in der Eckkneipe, „Звёзды (Zvezdy)” überzeugt mit einem unheimlich treibenden, verzweifelten Klang, den wir textlich nicht verstehen müssen um die vermittelten Emotionen zu spüren. Musikalisch bleibt festzuhalten – „Monument” ist eine tief ergreifende Platte.

Bei Molchat Doma darfst du weinen, ohne ausgelacht zu werden, hier darfst du tanzen ohne permanent ein gespieltes Lächeln aufzusetzen.

Bleibt noch zu ergründen, weswegen diese Band aktuell gerade bei jüngerem Publikum auf Begeisterung stößt. Dabei ist diese Frage nach dem kurzen Theorieeinblick gut zu beantworten, denn was für eine Musik ersehnt sich eine Jugend, die die Auswahl zwischen 20 Sorten Bubble Tea hat aber sich mit der Frage herumplagen muss, mit wie vielen Jobs sie sich später ihren Lebensunterhalt verdienen muss um im kapitalistischen System zu überleben. Viele Kids brechen aus und Molchat Doma stellen einen Ausbruch im doppelten Sinne dar: eine Absage an hegemonial-westliche Popkultur und eine Begeisterung für den Geist der Sowjetunion als systemische Alternative zu dem System, das sie mit Leistungsdruck, Körperidealen und gefälschten Emotionen zu abgestumpften Daseinsformen erklärt, wobei sie parallel dabei zusehen müssen wie eben jenes System zeitgleich den Planeten vor die Hunde gehen lässt. Molchat Doma, das ist Hauntology, das ist Musik, die dir die Hand reicht, dich in eine (imaginierte) Retro-Sowjet-Utopie führt und dich zur vollen Befreiung deiner Emotionen anregt. Hier darfst du weinen, ohne ausgelacht zu werden, hier darfst du tanzen ohne permanent ein gespieltes Lächeln aufzusetzen. Wie abgestumpft wir als kapitalistische Realist*innen enden würden, dazu lässt sich Molchat Domas Song „Ответа нет (Otveta Net)” zitieren: „Вчера были мы, а сегодня – я (Gestern waren wir und heute – ich)”.


[1] Fukuyama, Francis: „The end of history?” In: The National Interest. Summer 1989.

[2] Fisher, Mark: „Wie man einen Zombie tötet: Strategien für das Ende des Neoliberalismus” In: K-Punk. Ed. Tiamat 2020. S. 433f.

[3] Fisher, Mark.: „Gespenster meines Lebens : Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft.” Ed. Tiamat 2015.


Label: Sacred Bones Records
Veröffentlicht am: 13.11.2020
Interpret: Molchat Doma
Name: Monument
Online: Zur Seite des Interpreten.