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Kolinga – Legacy

Rezensiert von am 6. September 2022

       

Kennt ihr das, wenn ihr die Augen langsam öffnet nach einer Mediation und die Welt um euch herum fühlt sich im ersten Moment etwas entrückt an? So ziemlich das Gefühl hatte ich, nachdem ich die Kopfhörer abgesetzt, mir die Tränen aus dem Gesicht gewischt habe und wieder in der Realität gelandet bin. Das neue Album von Kolinga mit dem bedeutungsschwangeren Titel “Legacy” ist so voll aufgeladen mit musikalischer Expressivität und Emotion, dass es einen vollkommen einnimmt. Denn es ist ein sehr persönliches Album geworden rund um die Lebenswege der Sängerin Rébecca M’Boungou aus der südwestfranzösischen Provinz.


And I keep searching in every mens eyes for the love you never showed me”

Kolinga – “Mister Unknown”

Allein der Opener Mister Unknown startet mit einem Statement, in dem Sängerin M’Boungou mit der verlorenen Beziehung zu ihrem Vater und ihm selbst abrechnet. Den aus Brazzaville (Republik Kongo) stammenden Sänger bekommt die kleine Rebecca nur selten zu sehen – und wünscht sich nichts sehnlicher, als seine Kultur und Sprache kennenzulernen. Ganz leise, nur mit Begleitung vom Klavier, gelingt der Einstieg in dieses Album mit einer Anklage über persönliche Entwurzelung, die sich dann innerhalb von sechs Minuten zu einer stolzen Präsentation von M’Boungous musikalischem Können entwickelt.  Virtuos wechselt sie von Jazzgesang zu energischem Double Time und kraftvollen Soulpassagen, in denen ihre ganze Wut, Enttäuschung, aber auch die eigene Stärke auf einen niederprasselt, nach dem Motto: “Hier bin ich, die Tochter, die du nicht wolltest und schau, was ich alles kann!”

Als Kontrast danach folgt ein Loblied auf ihre Mutter Claudie Escalé-Mbemba, die übrigens als erste weiße Frau in das kongolesische Nationalballett aufgenommen wurde. Mama (Don’t let me) ist eine wunderschöne Liebeserklärung an die Person, die in Rebeccas Leben so viel geleistet und geopfert hat, um ihrem kleinen Mädchen die Welt in den buntesten Farben zeigen zu können.

Rebecca M’Boungou singt in den Songs auf “Legacy” auf Französisch, Englisch und Lingala (Nationalsprache in beiden Kongo-Staaten und Angola). Die Musiker Jérôme Martineau-Ricotti (Schlagzeug, Piano), Nicolas Martin (Bass), Jérémie Poirier-Quinot (Keybords, Flöte) und Vianney Desplantes (Euphonium, Flugabone) hüllen ihre emotionsgeladenen Geschichten und Erinnerungen in ein Gewand aus Pop, kongolischen Rumba, Jazz, Soul, Chanson und HipHop. Waren Kolinga bei ihrer Gründung 2014 und dem ersten Album Earthquake noch zu zweit, hat sich die Band nun zum Sextett erweitert, um ihren Sound auf dem neuen Album den nötigen Bums für all die Freude, Zerrissenheit, Spiritualität und Weltschmerz aus ihren Texten zu verleihen.

Bild: Mathias Bracho-Lapeyre

Spirituelle Bekenntnisse in Ca va aller (mbo buba) entwickeln sich von reduzierten Gesangspassagen in mitreißende Rumben, Liebeslieder wie Fire oder I Can See You sind eher soulig-melancholisch angehaucht und Appelle zur Offenheit und Mut in der Liebe. Hier geht es wesentlich elektronischer zu als auf dem Rest von “Legacy”, die Strophen ergießen sich in choral-erhobene Soundebenen, die dann “Dark Side of the Moon”-mäßig ins All davon gleiten. Bis hierhin, immerhin bereits der Hälfte des Albums, klingt kein Track in ähnlichem Ton wieder der zuvor, die Bandbreite an bedienbaren Genres scheint unendlich.

Ich schreibe wirklich alleine, dann kümmern wir uns mit Jérôme um die Arrangements und danach kommen die anderen jeweils einzeln zu den Aufnahmen, immer in einer äußerst intimen, sehr tighten Atmosphäre.

Sängerin Rebecca M’BOungou

Diese Intimität wird auf insgesamt 57 Minuten konstant gehalten, egal, ob ein Song in erster Linie funkige Energie und Spaß versprüht (Mateya Disko) oder ob mal cineastische Töne im instrumental-gehauchten Inner Truth à la “Dune”-Soundtrack angeschlagen werden. Die übergehen in mein persönliches Highlight, das großartige Je ne suis pas de ce monde. Ein funkig-gospeliger Track, der ab der Hälfte dann auf einmal in wuchtigen Nu-Jazz mit Bläserfront wechselt und einem lyrischen Kampf zwischen Anklagen an die zerstörerische Menschheit und dem Feiern der eigenen Natur und Freiheit preisgibt. Kolinga teilt aus, auf allen Ebenen. Man hat das Gefühl mitten in eine Jamsessions zwischen Band und dem beschwörerischen Gesang M’Boungous geworfen zu werden.  

Der Begriff “Legacy”, das Vermächtnis, zieht sich durch das komplette Album, wenn mit großem Stilpluralismus und in mehreren Sprachen kulturelles und spirituelles Erbe von Kolinga verarbeitet wird. Aber vor allem ist dieses Werk auch ein klares, persönliches Statement von Rebecca M’Boungou zu ihrer eigenen Biografie und Zeugnis ihrer unglaublichen Virtuosität. Im Closer Je suis née sous la lune steht dementsprechend noch einmal der Gesang allein auf der großen Bühne. Mit leiser Chorbegleitung schwillt der Song an und entfaltet schließlich seine ganze Kraft, wenn Rebecca M’Boungou über ihre eigene Geburt unter dem “Lächeln der Götter” singt. Sobald die Trommeln einsetzen, scheint ihre Reise ganz am Ende des Albums erst zu beginnen…


Label: Underdog Records
Veröffentlicht am: 02.09.2022
Interpret: Kolinga
Name: Legacy
Online: Zur Seite des Interpreten.


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