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Ja, Panik – Die Gruppe

Rezensiert von am 2. Mai 2021

       

Die Gruppe Ja, Panik zeichnet sich in der Pop Landschaft dadurch aus, dass sie den Menschen als ein revolutionäres Subjekt versteht und Pop 2021 somit weiterhin als Ort der Subversion begreift. Jedes ihrer Alben lässt sich zugleich als Manifest verstehen[1]. So haben uns Ja, Panik auf „DMD KIU LIDT“ (2011) gelehrt, unsere Depressionen zur Systemkritik zu formen um anschließend auf „Libertatia“ (2014) die eigene Utopie zu formulieren. Mit „Die Gruppe“ sucht die Band aus Österreich nun nach einem Exit vom zum Scheitern verurteilten Planeten. Auf dem Album finden sich Beobachtungen des Zeitgeistes mit all seinen Tech-Apologet:innen und dem allgegenwärtigen kapitalistischen Realismus. Am Ende ist „Die Gruppe“ analytischer und wirft eher Fragen auf, als sich als reines weiteres Manifest zu verstehen!

This planet is doomed

– Sun Ra

Der Opener „Enter Exit“ startet mit einer sich über fast 40 Sekunden aufbauenden Noise-Wand. Wir hören verzerrte Glockenschläge und einen Sound der an das Rauschen eines in die Jahre gekommenen Fernsehers erinnert, der einen Bombenhagel in einem Kriegsgebiet abzubilden versucht, aber auf dem durch Empfangsstörungen kaum mehr als undefinierbare Schlieren zu sehen sind. Es ist die Bilderflut die täglich auf uns eindrischt – mit all den Bildern von Krieg, Urwaldbränden und fliehenden Menschen in solch hoher Traktion, dass wir es kaum noch wagen diese einzuordnen und in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Schnell stellt sich ein Ohmnachtsgefühl gegenüber den Geschehnissen ein – „This planet is doomed“, um es mit den Worten Sun Ras auszudrücken.  Nachdem sich die Geräuschkulisse beruhigt hat, treffen wir auf das Lyrische-Ich, das sich in einem Gefühlschaos wiederfindet. Es wird von der „Sprache der Angst“ aufgesucht und verliert sich in Ohmnachtgefühlen gegenüber den Verhältnissen auf dem Planeten und sucht verzweifelt nach einer Exitstrategie: „weil unter der Welt eine Welt ist / und dazwischen auch / nur oben auf / da ist die Hölle / da ist das Stottern der Stille / da ist das Loch in der Zeit / da ist mein Kopf ohne Körper / da ist mein Mund ein Schrei“. Das reduzierte Gitarrenarrangement unter der ausdrucksstarken Stimme von Sänger Andreas Spechtl, das mit Saxophonklängen der Gastmusikerin Rabea Erradi angereichert wird, unterstreicht musikalisch die Ohmnachtsdramatik des Songs.

doch irgendwer ist da immer / allein bist du nie / ein anderer Schwindler / ein anderer Screen / life’s a dream / on livestream

On Livestream

„Gift“ zielt auf den Individualismus in der postmodernen Welt ab – das lyrische-Ich beobachtet die Menschen, wie sie jeweils ihrem eigenen Rhythmus nachgehen: „jeder Körper / ein eigenes Gift / warum nicht / die Sprache sprechen / die alle Welt spricht“. Zwei Songs später auf „On Livestream“ – dem musikalisch dynamischsten und poppigsten Song – wird die Thematik der Individualgesellschaft wiederaufgegriffen. Spechtl singt mit seiner ikonsich-charmanten Mischung aus deutscher und englischer Sprache, gepaart mit österreichischem Akzent über die weltweite Vernetzung durch das Internet. Doch im Gegenteil zum ursprünglichen Versprechen der Weltgemeinschaft durch das WWW, bekommen wir individuelle Performer:innen in Livestreams zu Gesicht. Durch die Gleichzeitigkeit eines Livestreams und die vermeintliche Face-to-Face Konversation, scheint das Medium authentisch wie kaum ein anderes. Dass ein:e Livestreamer:in als Zeichenproduzent:in nicht von den Prinzipien des Marktes und somit auch nicht von der Inszenierung zur Vermarktung ausgeschlossen ist, wird oftmals überblendet: „doch irgendwer ist da immer / allein bist du nie / ein anderer Schwindler / ein anderer Screen / life’s a dream / on livestream“. Und wenn der Bildschirm wieder schwarz ist, steht das Individuum allein in der chaotischen Welt. In „1998“ bezeichnet Spechtl das Internet direkt als „world wide wall“ – das in den 90ern prophezeite Subversionsversprechen des Internets als Raum der solidarischen Vernetzung und zur Veränderung der Verhältnisse ist anno 2021 längst gebrochen.

In „The Cure“ wird das Phänomen des kapitalistischen Realismus aufgegriffen. Das lyrische-Ich hat in den vorangegangenen Songs längst realisiert, dass der Kapitalismus den Planeten früher oder später vernichten wird, die Menschen durch ihn längst entzweit sind. Doch die Leistungsgesellschaft führt in ihm zu Depressionen. In einem letzten Flehen wendet es sich mit seinen Beschwerden an einen imaginierten Doktor. Der Song ähnelt einem Gebet und repräsentiert das transzendente Streben der meisten Weltreligionen – so sehr wir auch auf der Erde leiden, werden wir immerhin im Paradies erlöst. Dieses Denken hat bereits Max Weber in seinen Beobachtungen zum Zusammenhang zwischen Calvinismus und Kapitalismus festgestellt. Und so ist vom himmlischen Doktor auch keine Antwort zu erwarten – allein die irdische Antwort auf alle Probleme bleibt mantraartig bestehen: „the only cure from capitalism / is more capitalism / the only cure from capitalism / is more capitalism / and that’s the real capitalism“. Der Kapitalismus erhielt durch den Zusammenbruch der Sowjetunion eine globale Schein-Legitimierung und schmückt sich seitdem mit der Behauptung einer systemischen Alternativlosigkeit. Und so ist die Einsicht, dass der Kapitalismus zwar viele Übel mit sich bringe, aber leider alternativlos und eine Revolution unmöglich sei genau die Einstellung, die dem Kapitalismus besondere Stabilität verleiht.

in den Unterschied der vor uns liegt / tret ich ein / weil eine Gruppe möchte ich sein

Die Gruppe

Da das lyrische-Ich begreift, dass ein individueller Widerstand nichts bringt und auf das Internet sowie die Religionen kein Verlass sind, versucht es im Song „Die Gruppe“ sich im Hier und Jetzt zu organisieren. Ein gesamtgesellschaftlicher Unterschied kann nur gemeinsam erkämpft werden: „in den Unterschied der vor uns liegt / tret ich ein / weil eine Gruppe möchte ich sein“. Am Ende steht die Erkenntnis des Historischen Materialismus, dass Geschichte von den Menschen geschrieben wird und nur von ihnen verändert werden kann.

In „Backup“ gehen Ja, Panik darauf ein, dass die „Tricks des Privaten“ verlockend erscheinen mögen – sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen und zu versuchen in der Kleinfamilie, Videospielen oder Religion den zermürbenden Verhältnissen zu entfliehen. Diese Flucht lässt den Planeten, für den es eben kein Backup gibt, weiterhin mit Höchstgeschwindigkeit vor die Wand fahren.

no program that vanishes / before the system crashes

Apocalypse or Revolution

Und so heißt es am Ende „Apocalypse or Revolution“. Dass der Song als Vorabsingle ausgerechnet an Neujahr 2021 erschienen ist, kann als strategischer Kniff aufgefasst werden. Bereits 2019 aufgenommen, scheint der Song heutzutage wichtiger denn je. Die Corona Krise nutzt bisher, wie Marx und Engels es über den Kapitalismus und seinen Umgang mit der Krise bereits im 19. Jahrhundert niedergeschrieben haben, besonders denen, die bereits vor der Krise Profiteure des kapitalistischen Systems waren. Amazon baut seine Quasi-Monopolstellung aus, die großen Lebensmitteldiscounter erwirtschaften einen Gewinn sondergleichen und die Pharmazieriesen müssen ihre Impfstoff Patente nicht rausrücken. Für 2021 nun die Revolution auf die Agenda zu setzen, mag wie der einzig vernünftige humane und solidarische Schluss aus der Misere wirken.

Doch die Einsicht, dass es einen Systemwechsel braucht, ist eine Harte, denn ein revolutionäres Subjekt ist sich stets dessen bewusst, dass es für die Revolution politischen Aktivismus und politische Arbeit braucht und letztere schließlich nicht umsonst ihren Namen trägt. Eine unbequeme Wahrheit steht somit am Ende des Albums: „du wirst die Antwort verfluchen / Apocalypse or Revolution“. Diese Frage müssen sich nun die Rezipient:innen selbst beantworten: der süßen Flucht ins Private nachgehen oder die Verhältnisse aktiv bekämpfen? Und an welchen Tagen könnte diese Frage besser gestellt werden, als an Neujahr des immer-noch-Corona-Jahres 2021 (dem Releasetag der Single) oder am revolutionären Vorabend, dem 30. April (dem Releasetag des Albums)? Doch eine Erkenntnis ist nach dem Album nicht mehr zu verschweigen: wenn, dann muss jetzt gehandelt werden – gemeinsam, solidarisch und radikal!


[1] Zu Ja, Paniks Manifesten empfiehlt sich eine Lektüre des Essays „It’s about change and the power to change – Von Pop-Manifesten, von Utopien und vom Scheitern“ der Kulturwissenschaftlerin Anna Seidel, der in der Testcard #26 erschienen ist.


Label: Bureau B
Veröffentlicht am: 30.04.2021
Interpret: Ja, Panik
Name: Die Gruppe
Online: Zur Seite des Interpreten.