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“Es geht um den ständigen Drang der Menschen, mehr zu erreichen”

Geschrieben von am 22. April 2021

Die sonnigen Straßen von Paris des dritten Lockdowns. Die Menschen eilen durch die Stadt. Ein lautes Megafon durchbricht die Geschäftigkeit. Der Lärm kommt aber nicht von der Polizei, die die Plätze räumen will, sondern es ist La Femme. Die Band feiert ihren Release und macht Promo auf Rädern. Seit ihrem letzten Album Mystère sind bereits fünf Jahre vergangen und nun nimmt uns die Band auf ihrem dritten Album Paradigmes mit auf eine fantasievolle und bildreiche Reise zwischen Glamour und ein bisschen Absurdität.

La Femme bricht immer wieder mit ihrem eigenen Stil und will sich keine Grenzen von Genres auferlegen. Auf ihrem neuen Album Paradigmes begegnen wir Fantasien aus dem Wilden Westen, Vampiren und futuristischen Charleston Showgirls. Bei La Femme passt das alles bestens zusammen, mal im psych-rockigen Klang und manchmal fast in Electro-Swing. Ein kleines Variété-Theater in einem Pariser Keller dient als Ausgangspunkt für diese Traumreise. Trotz oder gerade dank ihrer Eigenwilligkeit hat La Femme großen Erfolg.

Wir haben mit Sacha Got, einem der zwei Köpfe hinter La Femme, gesprochen, während er durch die Straßen von Paris läuft. Er erzählt uns von dem kreativen Schaffenstrieb, der Unabhängigkeit, die sie sich als Gruppe nun genommen haben und die Quellen und Grenzen ihrer Kreativität. 

Das Interview führten Antonia Strotmann und Lilli von Rahden.

Radio Q: Es ist total verrückt, aber ich war letzten Samstag tatsächlich in Paris und habe euren Bus durch die Stadt fahren sehen, als ihr Werbung für das neue Album gemacht habt.

Sacha Got: Hast du uns gesehen? 

Radio Q: Ja, ich habe euch gesehen! Das war wirklich cool. Ich dachte erst, ihr wärt die Polizei, aber dann hab ich gesehen, dass ihr es seid und das neue Album bewerbt.

Sacha Got: Ist ja großartig, dass du uns gesehen hast. Ja, wir hatten sehr viel Spaß, wir sind mit einem Van in Paris rumgefahren und waren sehr laut und haben rumgeschrien – es war wirklich sehr witzig!

Radio Q: Habt ihr auf den Straßen lustige Reaktionen bekommen?

Sacha Got: Ja, es war sehr, sehr lustig. Da waren zum Beispiel ein paar Leute, die gar nicht verstanden haben, was passiert. Einige Leute kannten die Band, aber manche standen auch nur da und dachten vermutlich: “Was zum Teufel passiert hier?”, weißt du? Es sah ja aus, als kämen wir aus einem Zirkus oder so.

Radio Q: Ja, das war wirklich eine ungewöhnliche Idee. Vor allem jetzt, wo ich mir vorstelle, dass die Promo des Albums ein wenig anders aussieht als normalerweise, oder?

Sacha Got: Auch während Corona versuchen wir viel Promotion zu machen, das mit dem Van war sehr cool, die Leute haben sich sehr gefreut, uns in so einem echten Erlebnis zu treffen und nicht nur digital oder im TV.

Da wir mehr Zeit haben, arbeiten wir außerdem viel an Musikvideos. Wir sind weiterhin die ganze Zeit kreativ, das ist das wichtigste für uns. Mit Arte zusammen haben wir eine Release Party gefeiert, bei der wir unsere Songs live gespielt haben – man kann sie bei YouTube anschauen!

Radio Q: Eine Frage noch, die ein bisschen privater ist: Wir sind beide Studentinnen und haben uns mit verschiedenen Jobs rumgeschlagen. Wie sah das in eurer Vergangenheit aus?

Sacha Got: Zum Beginn der Band mussten wir für die USA Tour viel in Restaurants arbeiten oder Babysitten oder sowas. Wir hatten keine Eltern, die in der Musikbranche tätig waren oder uns komplett finanzieren konnten, wir mussten also von Anfang an hart dafür arbeiten. 

Radio Q: Jetzt konnten wir schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr reisen, euer Album fühlt sich an einigen Stellen wie eine Flucht aus dieser Gegenwart an, weil ihr von Fantasiewelten und weit entfernten Orten sprecht. Habt ihr das ganze Album in der Pandemie produziert?

Sacha Got: Wir haben das Album vor der Pandemie über ein paar Jahre produziert, es war sehr schwer es fertigzustellen. Als dann die Pandemie kam, mussten wir die Release-Party um ein Jahr verschieben. Wir sind in den letzten Jahren viel gereist, das kann man auf jeden Fall hören – das Album ist wie eine Reise. Viele verschiedene Orte und Situationen haben uns inspiriert: Amerika, Spanien oder die Türkei beispielsweise.

Radio Q: Ihr wart 2017 in den USA auf Tour, hat euch das Material für das neue Album geliefert? Ihr erzählt auf Nouvelle-Orléans und Cool-Colorado ja ein bisschen…

Sacha Got: Ja, Cool-Colorado wurde während einer Tour im Jahr 2014 geschrieben und 2017 blieben Marlon und ich nach der US-Tour in Los Angeles, um wieder an dem Track zu arbeiten. Wir haben aber auch in anderen Orten Kaliforniens gearbeitet, weil es dort eine sehr gute Musikszene gibt, viele Musikstudios und viele Leute, die sich für unsere Musik interessieren – immer wenn wir dort sind, fühlt es sich an wie unsere natürliche Umgebung. 

Radio Q: Hat das letzte Jahr eure Arbeitsweise im Vergleich zu den letzten Alben verändert?

Sacha Got: Unsere Arbeit hat sich eigentlich nicht sehr verändert, Marlon und ich komponieren jeder ein paar Songs, entscheiden dann, welche wir fürs Album produzieren wollen und welche wir auf Tour spielen. Während der Pandemie ist anders, dass wir mehr Autonomie haben, und zwar in Form von Heimstudios bei uns zuhause. Wir sind nicht mehr so abhängig von den Studios und Technikern, jetzt können wir alles selbst machen. 

Wenn Menschen glücklich sind, wollen sie noch glücklicher sein. Obwohl sie wissen, dass das falsch ist und sie dann frustriert werden.

Sacha Got von La Femme

Radio Q: In der Mitte des Albums scheint es irgendwie einen Schnitt zu geben, plötzlich befinden sich die Hörer*innen mitten in einem Western, umgeben von einer Herde Wildpferde. Woher kam die Inspiration dafür?

Sacha Got: Ich hab viel Country-Musik gehört und auch geschrieben und dann bin ich für ein paar Aufnahmen mit einigen Leuten nach Memphis gefahren und in dieser Session entstand der Song Lâcher de chevaux. Wie die Idee einen Twist mit dieser Westernmusik zu machen: Man kann den Einfluss von Giorgio Moroder sehr gut hören, er ist einer der besten Komponisten – so verrückt, erstaunlich und schön! Er hat einen großen Einfluss, er ist wirklich ein Meister.

Radio Q: Also ihr habt euch einfach auch ganz viel Country zur Inspiration angehört. Gibt es für euch irgendwo Grenzen, wenn ihr mit anderen Musikstilen experimentiert?

Sacha Got: Nein, nicht wirklich, es gibt keine Grenzen. Je unterschiedlicher, desto besser!

Radio Q: In eurem Track Disconnexion sprecht ihr philosophisch das größte Problem der Menschen an: dieser nicht zu stillende Wille nach Mehr in einer Welt mit begrenzten Ressourcen. Hab ich das richtig verstanden, dass ihr hier über die Klimakrise sprecht?

Sacha Got: Erstmal ging es uns um nichts bestimmtes, sondern eher den ständigen Drang der Menschen, in vielen verschiedenen Bereichen mehr zu erreichen. Wenn Menschen reich sind, wollen sie noch reicher sein. Wenn sie mächtig sind, wollen sie noch mächtiger sein. Wenn sie glücklich sind, wollen sie noch glücklicher sein. Obwohl sie wissen, dass das falsch ist und sie dann frustriert werden. Das kann man also auch mit dem Klimawandel verbinden, weil wir mit unserem Konsum eine Menge Umweltverschmutzung verursachen und schließlich den Planeten zerstören. Nur weil die Menschen immer mehr wollen. 

La Femme Foto: Oriane Robaldo

Radio Q: Genau wie auf Psycho Tropical und Mystère sind keine Künstler*innen offiziell auf dem Album gefeatured. Ist das eine bewusste Entscheidung gegen Gäste in eurer Musik?

Sacha Got: Bei jedem Album sind alle beteiligten Künstler*innen in den Credits angegeben und nicht direkt bei den Songs. Das ist der Geist von La Femme, man weiß ja nicht immer, wer gerade den Song singt, es vermischt sich eher alles miteinander. 

Radio Q: Französischer Pop hat aktuell einen riesigen internationalen Erfolg und Menschen aus der ganzen Welt haben sich auf euer neues Album gefreut. In einem Interview mit der französischen Zeitung Libération hast du erklärt, dass französische Musik bestimmte “Codes” hat, die international nicht unbedingt funktionieren. Wie würdest du diese einzigartigen französischen “Codes” beschreiben?

Sacha Got: Ich denke, es gibt keine spezifische Szene in Frankreich. Es ist eher so, dass jeder sein eigenes Ding macht und da gibt es natürlich eine Menge Ähnlichkeiten. Bisher hat jeder auf Englisch gesungen und versucht, amerikanische Bands zu imitieren. Jetzt bin ich froh, dass jeder mehr auf Französisch singt. Ich bin wirklich froh, dass die Leute uns zuhören, auch wenn sie die Texte nicht immer verstehen. Das ist die Kraft der Musik.

Merci, La Femme!


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