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Die Relevanz des Miteinanders – The Notwist im Interview

Geschrieben von am 1. März 2021

Die deutsche Band “The Notwist” aus Weilheim bei Oberbayern gilt international als Indierock-Urgestein. Nach ganzen sechs Jahren veröffentlichten sie Anfang dieses Jahres ihr elftes Studioalbum “Vertigo Days”, ein Album, das vor allem von verschiedenstartigen Einflüssen der gefeatureten Gästen lebt. 

Im Interview mit uns sprachen Markus und Micha Acher sowie Cico Beck unter anderem über den existenzialistischen Charakter ihres Albums, Entstehungsprozesse im Lockdown und ihre Begeisterung für jungen, innovativen Jazz. Außerdem beschrieb die Band ihr Gefühl des fehlenden Zusammenhaltes in der Coronakrise und kritisierten als Kulturschaffende die fehlenden Zuschüsse für den Kultursektor.


Radio Q: Hallo. Vielen Dank, dass es geklappt hat. Richtig nice.

Markus Acher: Gerne.

Q: Cico, wir haben gelesen, dass du ja auch hier in Münster studiert hast, an der Musikhochschule.

Cico Beck: Ich habe in Münster studiert, ja, ich war sogar einmal bei euch (Radio Q) im Studio, glaube ich. Das ist doch da beim Aasee! Und es gibt auf jeden Fall positive Erinnerungen, natürlich. So das Gleis 22 war eine total wichtige Adresse und SpecOps. Das war schon eine sehr nette Stadt und an der Musikhochschule wars auch schön.

Q: Wir wollen mit euch natürlich ein bisschen über euer neues Album “Vertigo Days” sprechen. Wir hatten immer den großen Eindruck, dass es so einen gewissen Zustand von Orientierungslosigkeit darstellt und das ist ja auch ein bisschen der Soundtrack zu dieser Situation, in der wir uns gerade befinden. Also man hat das Gefühl, Tage verschwimmen ineinander und man ist total überflutet von virtuellen Dingen und zieht sich in sich selbst zurück. Hat euch die Pandemie diesbezüglich beeinflusst oder war diese Stimmung für das Album schon vor der Produktion gesetzt?

Markus A.: Die Pandemie hat das Album schon beeinflusst, auf jeden Fall. Es ist keine Corona-Platte, oder sowas, also diesen collagen-mäßigen Sound hätten wir auch ausprobiert ohne die Pandemie. Aber bestimmte Textzeilen, die wir schon früher geschrieben hatten, haben sich dann plötzlich anders angehört. Im Endeffekt besetzt diese Situation natürlich den Kopf und man kriegt dieses Gefühl dann nicht mehr raus. Also ganz unbewusst ist es schon ein großes Thema auf der Platte. Ich hoffe aber, das ist jetzt nicht das beherrschende Thema ist und vor allem auch, dass man das Album nicht nur jetzt anhören kann, sondern es auch dann noch einen Sinn ergibt, wenn es hoffentlich mal wieder besser ist.

Q: Das Album funktioniert sehr gut als Einheit und als Gesamtkonzept. War das für euch eine Überlegung, in Richtung Konzeptalbum zu gehen?

Micha Acher: Das einzige Konzept, das wir für die Platte hatten, war, es als eine Art Mixtape zu gestalten. Also so, dass alle oder viele Stücke ineinander übergehen und man dafür einen einheitlichen Klang findet. Die letzte Platte war ja klanglich eher ein bisschen hart und kalt und das sollte dieses Mal anders sein. Alles sollte ineinander übergehen und man sollte alles in einem Bogen hören können, aber gleichzeitig sollte jedes Stück einzeln für sich stehen – das hatten wir uns auch schon vor der Pandemie überlegt. Und dann kamen noch die ganzen Gäste dazu, die die Platte wiederum nochmal in viele verschiedene Richtungen gelenkt haben. Diese Idee mit den Gästen hatten wir auch schon in den zwei Jahren davor, eigentlich seit wir die Alien Disko¹ machen. Es ging darum, dass man einfach viele Gäste einlädt und die wirklich als hörbare und präsente Stimme auf dem Album zu hören sind. Also alles, was uns beeinflusst, auch auf der Platte hörbar zu machen.

Über unterbewusste Schreibprozesse

Q: Auf der textlichen Ebene war ich mir unsicher, ob es da um eine Art Trennungsphase, also um einen Abschluss einer Person mit einer bestimmten Lebensphase geht oder ob es eher eine sehr existenzialistische Herangehensweise ist. Was sind eure Gedanken dazu?

Markus A.: Beide Dinge stimmen auf jeden Fall. Dieses Stück, “Into Love”, das einen Rahmen auf der Platte zu Anfang und zu Ende bildet, handelt von einer persönlichen Krise. Aber als wir das während des Lockdowns arrangiert haben, klang das vor diesem Hintergrund plötzlich wie ein Coronastück und erhielt so nochmal eine ganz andere Ebene – sowas mag ich sehr gerne. 

Aber im Großen und Ganzen versuche ich meine Texte so unterbewusst wie möglich zu schreiben und weiß deshalb oft selbst gar nicht, von was die eigentlich handeln. Oftmals fallen mir Worte und Bilder ein, die ich dann so stehen lasse und weitere Texte darum herum baue, damit es Sinn ergibt. Komplett entschlüsseln möchte ich das dann aber gar nicht. Trotzdem wird mir während der Interviews durch das Sprechen und Reflektieren klar, was ich unterbewusst in die Texte reingepackt habe. 

Es geht mir auch gar nicht darum, dass jeder alles exakt gleich versteht. Jede Form von Kunst berührt im Endeffekt ja dadurch, dass man darin etwas von sich selbst findet. Und wenn das teilweise auch mit unserem Album und den Texten funktioniert, bin ich da schon total glücklich. 

Q: Auf der Platte wird ein Rahmen gebildet, den du auch gerade schon angesprochen hast – durch die Tracks “Into Love / Stars” und “Into Love Again”.

Markus A.: “Into Love” beschreibt, dass es immer wieder Enttäuschungen und Brüche gibt und trotzdem erneuert sich alles ständig und man findet die Energie, weiter durchzuhalten. So dreht sich alles in einem Kreis. Daher war es naheliegend, den Track als Anfang und Ende der Platte zu verwenden.

Das Stück war außerdem eine gute Startrampe, damit nimmt das Album Fahrt auf. 

“Der Jazz war plötzlich wieder zeitgemäß, politisch und lebendig”

Q: Es gibt ja einige Feature-Gäste auf dem Album, zum Beispiel auf “Into The Ice Age” mit Angel Bat Dawid. Besonders präsent ist da die Klarinette, die für Indie-Rock natürlich schon ein außergewöhnliches Instrument ist. Wie seid ihr zu dieser Künstlerin gekommen und wie kam die Idee, in diesem Track dieses Element so einzusetzen?

Micha A.: Wir hatten mit Angel Bat Dawid zuvor ein Hörspiel gemacht, ein Bob Kaufman Hörspiel², auf dem sie sehr viel gesungen hat. Das war eine ziemlich nette und tolle Zusammenarbeit. In der Folge haben wir sie einfach gefragt, ob sie auf der Notwist-Platte etwas einspielen mag. Wir waren sowieso schon sehr lange sehr große Fans von ihr und hatten eben bestimmte Tracks auf dem Album, für die Featuregäste vorgesehen waren – so hat sich das dann ergeben.

Ein Konzept war auch, einfach alles auf die Platte zu machen, was uns gefällt und musikalisch anspricht, egal ob es passt oder nicht. Deshalb haben wir uns gar nicht überlegt, ob die Klarinette in das Genre passt oder nicht. Außerdem haben wir keinem unserer Gäste gesagt, was sie tun sollen, wir haben ihnen nur das Stück angeboten und gesagt: “Ihr könnt machen, was ihr wollt.” Angel Bat Dawid hat sich dann eben für die Klarinette entschieden. Genauso war es auch bei Ben [Ben LaMar Gay], da wussten wir gar nicht, was er macht. Es ging nur darum, diese Musiker, die wir extrem bewundern, hörbar zu machen. 

Q: Angel Bat Dawid und Ben LaMar Gay kommen beide aus Chicago und sind bei International Anthem unter Vertrag. Wie kommt diese Verbindung zu Chicagos Jazz-Szene zustande?

Markus A.: Das kommt über das Label International Anthem. Wir mögen Jazz sehr gerne und hören es schon sehr lange, aber das wurde immer mehr zu einer Art Hassliebe, denn viel zeitgenössischer Jazz bedient nur noch bestimmte Klischees und Anforderungen, ist sehr technisch und konservativ und reproduziert nur noch irgendetwas, was nichts mit jetzt zu tun hat.

In Chicago, Südafrika oder London ist in den letzten Jahren aber viel Neues entstanden, sodass der Jazz plötzlich wieder eine zeitgemäße, politische und sehr lebendige Musik geworden ist.

Das hat uns sehr gefreut und wir haben das mitverfolgt – International Anthem war dafür ein sehr wichtiges Label und mit jeder neuen Veröffentlichung dort wurden wir viel begeisterter. Wir haben ja hier unser Festival Alien Disko und haben dort diese Künstler eingeladen, wie Ben LaMar Gay. Er ist kein typischer Jazz-Künstler, sondern wie wir ein extrem offener Musiker, der alles macht, was ihm gerade gefällt. Er setzt sich keine Grenzen oder Dogmen. Deswegen wussten wir, dass wir ihn auf jeden Fall nach einem Feature fragen. 

Digitale Zusammenarbeit

Q: Aus euren Erzählungen und was Alien Disko betrifft wird schnell klar, dass ihr eine sehr soziale Band seid, die viel Wert auf Beziehungen zu anderen Künstler*innen und Live-Shows setzt. Touren und Festivals sind nun sehr schwer möglich und es ist auch kaum absehbar, wann alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Sind Livestreams oder ähnliche Dinge da eine Alternative für euch, um diesen sozialen Aspekt beizubehalten?

Markus A.: Grundsätzlich finden wir, dass nichts so wirklich ein Live-Konzert ersetzen kann. Das fehlt uns sehr, weil wir das immer total genossen haben und es ist total schade, dass es so lange pausiert und wir hoffen, dass es bald wieder losgeht. Was die Formate angeht – wir haben beim Moers Festival gespielt und das ist zwar kein Ersatz für ein Livekonzert, aber es gibt trotzdem positive Nebeneffekte. Beispielsweise kann man sehr kreativ mit dem Format umgehen. In Moers speziell war die Reichweite dann ja auch nochmal ganz anders – uns haben ganz viele Leute aus England, den USA oder Mexiko geschrieben und das war total schön und überraschend in dieser Situation, in der sich jeder ja eigentlich eher einsperrt.

Q: Du hast gerade positive Nebeneffekte durch Livestreams angesprochen. Hat die Zusammenarbeit mit den Kollaborationen denn auch elektronisch von zuhause aus stattgefunden oder hat man sich da auch mal im Studio getroffen? Und wusstet ihr schon im Vorhinein, für welche Stücke ihr welche Künstler*innen verwenden wolltet?

Micha A.: Wir hatten schon bestimmte Stücke, die für Feature-Gäste vorgesehen waren und hatten uns auch schon überlegt, wen wir für die bestimmten Stücke fragen. Stattgefunden hat das alles wirklich nur digital – wir haben uns dann Files hin- und hergeschickt und geschrieben. Ich muss aber auch sagen, dass das die Zusammenarbeit schon ein bisschen vereinfacht hat, weil alle überall in der gleichen Situation waren. Alle waren zuhause, durften nicht mehr spielen und haben sich über Zusammenarbeiten gefreut. Achso, bis auf ein Stück, das allerletzte! Das haben wir bei der Alien Disko aufgenommen, mit Zayaendo. Die haben bei uns gespielt und da haben wir das mit denen zusammen mal in der Hinterbühne vom Theater aufgenommen, mit nem Taperecorder.

“Aus dieser Notlage wird schnell nur Profit gezogen”

Q: Ihr seid eine wahnsinnig vernetzte Band – ihr habt ein eigenes Festival, habt gerade ein Album rausgebracht und steht so absolut in der Mitte des Kultursektors. Wie schätzt ihr die politischen Maßnahmen in Bezug auf die Pandemie und den Kultursektor ein? Gibt es überhaupt Maßnahmen, gibt es von eurer Seite bestimmte Wünsche für Unterstützungen oder Regelungen? 

Markus A.: Ich erwarte erstmal nicht wirklich etwas von der Politik, dem Staat oder irgendwelchen Parteien – das haben wir eigentlich schon immer so gehalten. Aber wenn es so läuft, wie es momentan läuft – dass Gelder, die sich aus Steuern speisen, in sehr große Konzerne wie Lufthansa aufgeteilt werden – dann sollten die Kulturschaffenden genauso viel davon bekommen. Und damit meine ich nicht nur Musiker, Künstler und Leute, die auf der Bühne stehen und an den Wänden hängen, sondern vor allem auch die Menschen, die es möglich machen. Sprich, die ganzen Clubs, Veranstaltungstechniker und so weiter. Denn was mich an der ganzen Pandemie extrem erschüttert hat, ist die Erkenntnis, dass es im Grunde genommen nicht dazu geführt hat, dass man darauf aufmerksam wird, wie sehr man aufeinander angewiesen ist. Auch in der internationalen Zusammenarbeit. Stattdessen wird ganz schnell aus dieser Notlage doch wieder Profit gezogen – seien es Impfpatente oder Fluggesellschaften, Amazon oder so.

Die Leute haben es irgendwie nicht erkannt, dass man nur in Zusammenarbeit gut aus dieser ganzen Sache rauskommt. Alle und die Politik denken wieder nur an Profit und Geld und im Endeffekt werden die Reichen dann eben reicher und die Armen ärmer.

So sieht es leider gerade aus, finde ich. 

Q: Vielen Dank für diese Aussage. Die letzte Frage ist ein bisschen lockerer: Wenn ihr das Gefühl der Pandemie oder auch des Albums mit einem Film beschreiben müsstet, fällt euch da etwas Vergleichbares ein?

Markus A.: Es gibt einen Film, der hat mich sehr beeindruckt. Er heißt “Midnight Special” von Jeff Nichols. An die ersten zwei Drittel des Films musste ich in dieser Zeit immer wieder denken. Es ist eine Art Programmkino-Science Fiction, ein total genialer Film, der am Schluss ganz seltsam wird. Der Film ist fast so eine Art E.T. für das Programmkino. Aber die ersten beiden Drittel spielen nur nachts und man versteht kaum, um was es geht. Alles ist ganz traumwandlerisch seltsam mit komischer 80er-Synthesizermusik. Obwohl der Film 2016 rausgekommen ist, also das ist total aus der Zeit gefallen. Auch bei unserer Platte musste ich daran immer wieder denken. Die Fotografien von Lieko Shiga haben mich daran erinnert.  

Q: Herzlichen Dank für das Interview!

Das Interview führten Carlotta Rölleke und Nicola Koch.


1 – The Notwist veranstalten jährlich ihr eigenes, internationales und genreübergreifendes Musikfestival “Alien Disko”. https://www.facebook.com/aliendisko/ 

2 – https://www.br.de/mediathek/podcast/hoerspiel-pool/thank-bob-for-beatniks-musikalisches-hoerspiel-ueber-den-beatpoeten-bob-kaufman-von-andreas-ammer-1/1804938


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