Interview mit Tocotronic
Written by Redaktion on 27. Januar 2018
Interview: Jan Ripke
“Die Unendlichkeit” heißt das nunmehr zwölfte Studioalbum von Tocotronic. Das neue Album berichtet in zwölf Kapiteln aus dem Leben von Sänger Dirk von Lowtzow. Die Platte erzählt von der Kindheit in der Provinz. Dem Angefeindet werden auf der Straße, weil man nicht ins spießige Kleinstadtbild passen will. Sie berichtet von der ersten Liebe und der Entdeckung der Rockmusik im Keller des Elternhauses. Verarbeitet den Verlust eines guten Freundes, die Sucht, das Scheitern, das Wiederaufstehen. Und zuletzt wagt das Album den Blick in die Zukunft. Über 40 Jahre Lebenserfahrung, 25 Jahre Bandgeschichte verarbeitet in 45 Minuten Musik. Möglicherweise ist “Die Unendlichkeit” das beste, ganz sicher aber das abwechslungsreichste Album der Bandgeschichte.
Wenige Tage vor der Veröffentlichung trifft Radio Q-Reporter Jan Ripke in Hamburg Jan Müller (Bass) und Rick McPhail (Gitarre). Ein Gespräch über das neue Album, das Aufwachsen im kalten Krieg und warum Tocotronic es vorziehen, auf deutsch zu singen.
Das neue Album ist wieder ein Konzeptalbum geworden, diesmal ein autobiographisches Album. Im Rückblick hat sich das vielleicht schon auf der letzte Platte ein bisschen angedeutet, da gabs ja schon Songs wie “Date mit Dirk”. Aber wie habt ihr reagiert als Dirk mit den ersten Skizzen zu einem ganzen Album dazu ankam?
Jan: Es verunsichert einen als Nichtsänger im ersten Moment schon ein bisschen, weil man sich schon als Band definiert und denkt, jetzt wird der Sänger zu sehr in den Fokus gerückt. Wir waren ja auch eine Band, die sich oft durch die Vokabel „Wir“ definiert hat, „Wir kommen um uns zu beschweren“ oder andere Beispiele dieser Art. Aber nach diesem kurzen Moment der Verunsicherung, fand ich das eigentlich sehr folgerichtig und interessant und auch ganz schön und ehrlich.
Und eigentlich brachte uns das als Band auch weiter in eine sprachliche Richtung, die ich ohnehin interessant fand. Das die Songtexte noch direkter und einfacher werden.
Wie kann man sich den Arbeitsprozess vorstellen? Bei einem autobiographischen Album ist es sicher schwer die Mitte zu finden. Dass man nicht zu viele Sachen preisgibt, die andere Leute nichts angehen. Und auf der anderen Seite, dass man nicht zu viele Sachen für sich behält und es dann zu platt wird.
Jan: Das war wirklich die Herausforderung, da eine Ausgewogenheit zu schaffen, die auch für uns als Band passt. Man kann sich das so vorstellen, dass wir ungewöhnlich viele Songs gemacht haben. Zunächst Dirk alleine, die haben wir dann zusammen bearbeitet und geschaut haben: “Was muss denn jetzt eigentlich übrig bleiben?” Wir wollten auf keinen Fall so eine ausufernde Doppel-CD machen. So lang sind unsere Leben auch noch nicht und das hätte auch ein bisschen eitel gewirkt. Wir wollten uns auf das Wesentliche beschränken und so fand diese Auswahl durch Ausschluss statt.
Rick: Es ist ja auch keine geschriebene Biographie. Die Musik muss ja mit dem Text zusammen funktionieren, wie Popmusik halt funktioniert. Man möchte auch, obwohl es die eigene Geschichte ist, dass es trotzdem genug Universales hat. Dass es vielleicht auch andere Menschen anspricht und sie gewisse Parallelen zu ihrem eigenen Leben sehen. Man will nicht, dass es zu persönlich wird, dann funktioniert das nicht wirklich gut als Kunstwerk. Das ist dann vielleicht als Buch gut, aber nicht als Rockmusik.
Habt ihr euch denn am Ende im Album wiedergefunden, obwohl es eigentlich Dirks Geschichte ist? Dirk ist in einer Kleinstadt in der Nähe von Freiburg aufgewachsen. Jan, du bist in Hamburg groß geworden. Rick, du kommst aus Maine. Gibts da trotzdem Parallelen?
Jan: Es gibt Stücke da ist das ganz extrem. Zum Beispiel als Dirk uns „Hey Du“ vorgespielt hat. Und uns Dreien ging das allen so: „Ah, genau das kennen wir doch!“. Diese Situation des angefeindet werdens aufgrund von äußerer Differenz. Und so ist das bei vielen Stücken. Im Idealfall kann sich da jeder ein stückweit drin wieder finden. Ein Stück wie „Tapfer und Grausam“ beschreibt meiner Meinung nach diese Verunsicherung, die man als kleines Kind haben kann, aber auch diese noch nicht klar festgelegte Differenz zwischen Realität und Phantasie. Mir kam da auch meine eigene Kindheit wieder in den Sinn. Natürlich ist das jetzt nicht meine Biographie und auch nicht Ricks oder Arnes, aber ich denke die Song haben schon ein hohes identifikatorisches Potenzial – sollen sie auch haben.
Du warst auch früher Punk, oder? Da musstest du dir doch bestimmt auch in Hamburg in manchen Vierteln ein bisschen was anhören?
Jan: Ja, zumindest hatte ich eine Zeitlang bunte Haare und das war durchaus gefährlich, wenn man sich in die Randbezirke der Stadt vorwagte.
Das Album ist ein Blick zurück, trotzdem sind die zeitlichen Bezüge eher vage gehalten.. Es taucht mal ein Bordtelefon im ICE oder RAF-Fahndungsplakate auf, aber ansonsten ist es sehr vage. Okay.. bei 1993… da ist es konkret.
Jan: … da ist es sehr konkret (lacht)
…Bei den restlichen Song ist es aber sehr vage. War das so gewollt?
Rick: Ich glaube man will, dass es es nicht wie so ein Retro-Werk funktioniert. Das ist das, was ich mit dem Universalen meine, dass es nicht nur um solche Zeitmomente aus der Vergangenheit geht. Man will, dass es auch gewisse Parallelen gibt, von Dirks Jugend als er 14 war, zur heutigen Zeit. Dass man das trotzdem übertragen kann. Dass es nicht nur so eine Art Retro-Film ist.
Jan: Das wäre schon schön wenn sich der Bezug zur Gegenwart herstellen ließe.
So politisch ist das neue Album:
Ich hab im letzen Jahr zum ersten Mal gedacht, wenn man jetzt auf die Welt schaut, auf Trump oder die AfD, dass ich mir nicht mehr sicher bin ob das so weitergeht mit der Welt, ob das irgendwie alles gut wird. Gibts da Parallelen zu eurer Jugend, Ende der 80er, Anfang der 90er?
Jan: Bestimmt, wir sind ja in Zeiten des sogenannten kalten Kriegen aufgewachsen…
Rick: …jeden Tag hätte es losgehen können…
Jan: Ja… wo der 16-fache Overkill, durch Atomwaffen im Raume stand. Andererseits begann dieser kalte Krieg schon weit vor unserer Geburt und es war immer so ein Risiko. Ich hatte diese Angst weniger, aber sie stand schon im Raume.
Rick: Damals war ich natürlich in Amerika und hab diese ganze US-Propaganda mitbekommen. Es war nicht so extrem wie in Deutschland, wo man direkt an der Grenze war, aber die UDSSR war natürlich der große Feind, das hat man immer gehört. Deswegen hat man sich als Teenager wahrscheinlich auch sehr für Politik interessiert, weil man dem gar nicht aus dem Weg gehen konnte. Diese Sachen fanden auch in der Popmusik statt und wurden da kritisiert. Für mich war damals beispielsweise die Frankie Goes to Hollywood Platte sehr wichtig, weil die das im Popkontext aufgegriffen haben. In so einem Lied wie „Two Tribes“ beispielsweise. Das fängt mit diesen Air-Sirens, diese Luftangriffssirenen, an. Dann hast du diesen Ronald Reagan Impersonator und auf der Rückseite der Single gab’s diese Auflistung, wie viele Intercontinental Ballistic Missiles haben die USA und wie viele die Sowjets – das fand ich super.
Das hat ja auch irgendwie was faszinierendes…
Rick: Total! Und vielleicht ist dieses Gefühl zwischendurch ein bisschen verloren gegangen. Wobei, es gab keinen Tag ohne Krieg in den letzten Jahrhunderten!? Man hat immer Kriege geführt, aber es wurde zu so einem Nebenbei. Man konnte vielleicht ein bisschen mehr die Jugend genießen, in deiner Generation, obwohl auch die ganze Zeit in Afghanistan und im Irak Krieg geführt wurde.
Jan: Aber dieser allgemeine Trend nach rechts, nach diesen neo-liberalen Zeiten, die dann auch stark hedonistisch geprägt waren, das ist schon was sehr beunruhigendes. Man kann es auch nicht so direkt mit der Zeit vergleichen, als wir jung waren. Das ist was anderes. Das muss man sehr aufmerksam beobachten. Immerhin gibt es nicht irgendwo in diesen Kreisen die große intellektuelle Figur. Wie soll es auch? Das widerspricht dieser rechten Ideologie ja schon im Grunde. Aber Demagogen gibt es natürlich… und ja…es ist gefährlich.
Rick: Aber man hat diese Extreme wie damals: Kapitalismus gegen Kommunismus, das hat man ja heute mit Islam und den Christen. Diese Ideologien kann man natürlich ausnutzen. Man findet genug Leute, die damals gesagt haben: „Kapitalismus, das ist die wahre Demokratie, und Sozialismus ist Hippie-Scheiße und funktioniert nicht“.
Und genau so kann man heute Leute finden, die das gleiche über den Islam sagen. Und das Problem ist, viele Menschen, die das als Feindbild sehen, wissen so gut wie gar nichts darüber. Die glauben dann den, ihrer Meinung nach, „echten Nachrichten”, was dann aber eher Fake-News sind. Da hat man echt ein Problem, das immer weiter und weiter wachsen kann.
Lest ihr manchmal Kommentare unter Nachrichtenbeiträgen bei Facebook?
Jan: Das ist das Schlimmste! Na gut, das ist einfach der Stammtisch, der sich in den digitalen Raum verlagert hat. Ich weiß nicht ob das je so anders war.
Zumindest sind die da in der Überzahl…
Jan: Ich glaub das sind dann auch die Leute, die die entsprechende Energie haben sich da zu äußern. Welcher normale Mensch kommentiert denn jeden Artikel den er irgendwo liest? Das sind ja einfach Leute die generell ein Problem haben. Und ob es die vorher nicht gab…weiß ich nicht.
Würdet ihr sagen, dass ihr das auch auf den Album kommentiert. Wie politisch ist „Die Unendlichkeit“?
Rick: Das haben uns viele gefragt. Die meinen alle, weil die Welt so schlimm aussieht im Moment, umweltmäßig oder Neo-Liberalismus, wieso wir keine politische Platte gemacht haben. Viele meinen, dass sie viel zu unpolitisch geworden ist. Wir finden, dass es vielleicht Momente gibt, die politisch interpretiert werden können. Aber wir sind eine Rockband und die meisten Leute wissen auch wofür wir stehen. Wir äußern uns sehr oft über unsere politische Meinung. Aber wir sind ja keine political scientists, die sich zur Tagespolitik äußern, sondern Rockmusiker.
Jan: Das wär auch sehr erwartbar gewesen. Was sollen wir machen? Statements zu Trump oder zur AfD? Man muss auch aufpassen, dass man diese Leute nicht weiter groß füttert, indem man sich zu sehr damit beschäftigt. Natürlich schaut man interessiert auf das was passiert in unserem Land und in der Welt, aber wie Rick sagt, wir sind keine Politiker. Wir sind eine Band und jedem, der sich mit unseren Songs auseinandersetzt wird, unsere Haltung deutlich. Aber wenn das irgendwann so ein Verkaufsargument wird, wie politisch wir doch sind, das fände ich irgendwie ein bisschen verlogen.
Wahrscheinlich hättet ihr dann heutzutage einen Song zur AfD, einen Song zu Trump, einen Song zum Klimawandel und so weiter machen müssen…
Jan: Das wär sehr einfach gewesen. Dann wär ich da, wovon ich mich irgendwann abgewandt habe, als ich merkte diese ganze Punkmusik, die dreht sich im Kreis. Da geht es nur noch darum, was man als nächstes anprangern kann. Aber im Grunde sagt es alles wenig und erreicht vor allem auch wenig.
Ihr wollt das neue Album aber auch auf keinen Fall als so einen biedermeierlichen Rückzug ins Private verstanden wissen.
Jan: Das würde auch anders klingen, glaube ich. Man ist immer in der Situation, wenn man selbst sagt: „das ist alles hochpolitisch“ dann ist das auch immer Selbstmarketing. Aber die Frage ist auch, ob ein Stück wie „Mein Morgen“ so unpolitisch ist oder ob das nicht auch eine Utopie besingt. Ich finde aber, das müssen die Hörerinnen und Hörer beurteilen, nicht wir. Aber Rückzug ins Private… dann müsste man ja die Band auslösen, weil die steht ja fürs Gegenteil.
Warum Tocotronic nicht auf Englisch singen:
25 Jahre gibt’s Tocotronic schon, eine ganz schön lange Zeit. Wie würdet ihr sagen, war der Einfluss von Tocotronic auf die deutsche Musik?
Rick: Ganz Wichtig! (lacht)
Jan: Nach Bach eigentlich das Wichtigste! (lacht)
Bach, Beethoven, Tocotronic…?
Jan: Joaaa, Joaaa… Das kann man so schreiben. Das ist eine schwierige Frage. Das müssen andere beurteilen, find ich.
Rick: Aber man weiß schon, dass es ein paar Menschen gibt, denen es gefällt was wir machen.
Jan: Ja natürlich, das hoffe ich auch. (lacht)
Meint ihr, dass ihr auch ungewollt ein Vorbild wart für viele Bands die Deutschsein wieder cool gemacht haben?
Rick: Leider, ja. Rammstein waren große Toco-Fans, glaub ich… (lacht)
Jan: Also ohne Witz, ich hab mich echt irgendwann erschrocken, da gab’s eine CD, ich weiß nicht mehr wie die hieß. Das war 2002 oder so. Und auch schon davor kamen die ganzen Deutschpop-Kompilations raus. Und auf dieser CD prangte ein Aufkleber: „Deutschland ist erwacht“. Da dachte ich: „das ist ja wirklich alles ganz furchtbar, was hier in Bewegung geraten ist“. Ich glaub der Marketingtyp der sich das ausgedacht hat wusste gar nicht was das für ein Zitat war.
Mir ist das eigentlich völlig egal in welcher Sprache etwas formuliert ist. Wir haben das immer gemacht, weil man doch direkter und auf eine paradoxe Art auch umständlicher zum Ausdruck bringt, was einen bewegt. Aber gut, dass das dann irgendwann so eine Mode wurde… Aber wie hoch unser Anteil daran ist, weiß ich nicht.
Habt ihr nicht auch einige eurer ersten Texte zunächst auf Englisch geschrieben, die ihr dann ins Deutsche übersetzt habt?
Jan: Dirk hat bevor er nach Hamburg gezogen ist auch schon Musik gemacht und in Bands gesungen und das war auf Englisch. Und ich glaub es gab „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“. Das hatte er schon geschrieben bevor er zu Tocotronic kam und zwar auf Englisch. Und ich glaub es gab noch ein anderes Stück…
Rick: „You are quite Cool“?
Jan: Ne das war anders. Das haben dann tatsächlich Arne und ich im Café Canas extra in so ein Denglish übersetzt.
Rick: Ah das ist umgekehrt, auch ich lerne was….
Jan: Ich glaube „Meine Freundin und ihr Freund“ gab’s noch auf Englisch, aber ich will jetzt auch nichts falsches sagen. Genau. Aber Dirk hat erst auf deutsch getextet nachdem er nach Hamburg kam. Vielleicht kam er auch deswegen nach Hamburg, weil er sich für die deutschsprachige Popmusik zu interessieren begann.
Ihr habt „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ auch nochmal auf Englisch herausgebracht. Habt ihr dann die Originalversion von Dirk genommen? Oder habt ihr die deutsche Version, die ursprünglich schon auf Englisch war, ein zweites mal übersetzt? Weißt du das noch?
Jan: Oh, das ist schon lange her. Die englische Version die auf dieser Single ist, das ist nicht diese ursprüngliche Version. Aber ich komm jetzt auch ein bisschen ins Schwimmen wie du merkst.
Rick: Ich wusste nicht, dass es das auch auf Englisch gibt, jetzt lerne ich wieder was..
Jan: Ja, die zweite 7’’ von uns.
Warum habt ihr das nochmal auf Englisch rausgebracht? Wolltet ihr auch im Ausland groß rauskommen?
Jan: Das war reiner Witz. Es ist auch sehr spezielles Englisch. Aber wir haben später tatsächlich einen ersthaften Versuch unternommen. Das ganze Album “KOOK” gibts ja auf Englisch. Wir waren auch in den USA auf Tour mit einer befreundeten Band. Wir hielten das für ein interessantes Experiment zu schauen, wie unsere Sprache auf Englisch funktioniert. Offensichtlich nicht so gut.
Rick: Ich weiß nicht ob du die erste Nena-Platte kennst…
Jan: …„99 Red Ballons“?
Rick: Ja die Platte „99 Red Ballons“. Die eine Seite der Platte ist auf englisch und die andere auf deutsch. Und es ist oft sehr interessant zu schauen, welche Version cooler ist. „Nur geträumt“ find ich auf englisch – „Just A Dream“ – ein super New-Wave-Stück. Aber „99 Red Ballons“ war weniger ein Hit in Amerika, weil die Leute die deutsche Version cooler fanden. Da ist gerade dieser deutsche Gesang cooler.
Die Musik auf “Die Unendlichkeit”:
Ich hab auf dem Weg hierhin nochmal das Vorgängeralbum, das “Rote Album” gehört. Im Vergleich klingt „Die Unendlichkeit“ für mich viel rauer, ein bisschen härter und gitarrenlastiger. Wie ist das zustande gekommen?
Jan: Beim “Roten Album” war die Idee, schon ein poppiges Album zu machen. Also für unsere Verhältnisse zumindest. Wir kamen ja von der Live-Aufnahme, mit Moses Schneider zusammen. Über vier Alben, bis zum Album „Wie wir leben wollen“. Die waren sehr durch diese Vierspur-Aufnahmen im Candy Bomber Studio definiert. Und das “Rote Album” war unsere Version eines Pop-Albums. Beim neuen Album ging es uns dann um was anderes. Ich weiß nicht, ob ich es gitarrenlästiger finde. Ich glaube es ist grooviger, als das “rote Album”, weil die Schlagzeug-Beats abwechslungsreicher sind. Gitarrenlastiger? Teilweise…
Vor allem auf der ersten Hälfte des Albums.
Jan: Okay, da gibts natürlich viele schnelle Stücke und verzerrte Gitarren.
Rick: Die hab ich gemacht. Ich spiel ja eigentlich immer verzerrte Gitarren. Auf der letzten Platte musste ich einmal clean spielen, da hab ich echt den totalen Anfall gekriegt. Das Gute an Verzerrung ist, es schmiert immer alles ein bisschen. Deswegen denken die Leute, dass ich gut Gitarre spielen kann, weil ich alles durch einen Verzerrer spiele.
Kannst du das nicht?
Rick: Hmm…Blenderei. (lacht)
Jan: Naja… sehr soundorientiert.
Muss man ja auch sagen. in den letzten 25 Jahren habt ihr schon musikalisch dazugelernt.
Jan: Zwangsweise… (lacht) Ja, klar! Wir haben das Spielen in der Band gelernt. Wir konnten das ja nicht, als wir anfingen. Das war uns auch egal. Wir haben uns nicht als Musiker gesehen, uns ging es einfach darum eine Pop-Band zu haben. Und irgendwann setzt man sich dann auch mal mit seinem Instrument auseinander. Tobias Levin hat uns da sehr geholfen. 2001/2002 als wir das “weiße Album” gemacht haben. Dafür bin ich ihm auch sehr dankbar. Weil diese Anti-Haltung alles als Muckertum zu verurteilen, was vielleicht ein bisschen raffinierter ist, das wird irgendwann auch ein bisschen dumm.
Auf dem neuen Album fallen auch die vielen musikalischen Bezüge auf. „Hey Du“ klingt schon ein bisschen wie „Hey Jane“ von Spiritualized. Wo kommt das her?
Jan: Das wurde uns schon öfters gesagt, dass das nach “Hey Jane” klingt. Klar kennen wir Spiritualized, aber …
Rick: … Die Gesangsmelodie. Das hör ich auch. Aber ich besitze jede Spiritualized Platte außer diese, wo das Stück drauf ist. Ich hab nur einmal das Video gesehen. Ich mag von denen eher diese orchestralen Sachen „Ladies and Gentlemen We are Floating in Space“ und sowas. Ich glaube, die Gesangsmeldodie ist ein bisschen ähnlich. Wir haben auch erst später gemerkt, dass wir auf der Platte sehr viele musikalische Referenzen haben, aus den Zeiten in denen die jeweiligen Lieder spielen. Aber das war uns nicht immer bewusst. Vielleicht hat man bei „Electric Guitar“ mal einen Drumbeat wie bei Prefab Sprout gespielt. Aber es ging uns nicht darum zu sagen: „Jetzt spielt das Lied im Jahr 1983. Wollen wir mal schauen, dass wir was in die Richtung machen?“ Das hat sich einfach so ergeben. Lustigerweise, höre ich mir nie irgendwelche Referenzen an, bevor ich eine Platte mache.
Jan: Ich auch nicht!
Rick: Das ist gefährlich! Das mag hippiemäßig klingen, aber ich lass die Stücke immer treiben, in welche Richtung sie gehen wollen. Oft ist es dann ein Zufall, oft ist es aber auch Zwang. Wenn Dirk die Stücke für Akustikgitarre schreibt, dann kommt er vielleicht mit etwas, von dem er denkt, dass es super punkig klingt. Dann spielt man das punkig und denkt „Ne das ist scheiße“. Vielleicht klingt es geil auf einer Akustikgitarre, aber als Band merkt man dann sehr schnell, man muss daraus ein anderes Stück machen, damit es interessant klingt. Das war bei einigen Stücken so, da muss man dann immer ein bisschen rumprobieren.
Wie kam es beim Song “Unwiederbringlich” zu diesem, ich sag mal, Carl-Orffschen-Musikkosmos?
Rick: Orff?
Jan: Also die Instrumentierung hat schon was vom orffschen Schulwerk.
Rick: Aber Orff hat keine schwarzen Tasten.
Jan: Ist das so?
Rick: Bei Orff ist alles weiße Tasten. Ein echtes Xylophon hat schwarze Tasten, aber die nerdy Orff-Sachen hatten schöne weiße Tasten.
Jan: Wir wollten etwas haben, dass eine Zugfahrt illustriert. Das Orchesterarrangement ist von Paul Gallister. Das hat der wunderschön gemacht, in Absprache mit uns. Also das ist eines der Stücke das mich am meisten berührt. Was auch mit dem Thema zusammenhängt: dem Verlust eines geliebten Menschen.
Der Song ist aber sehr tröstlich geworden, finde ich.
Jan: Das ist sehr schön, wenn du das so sagst. Wenn das jetzt nur schwer und traurig wäre, das fände ich irgendwie auch nicht schön. Tröstlich ist vielleicht genau die richtige Vokabel. Wir haben da vorhin schon drüber gesprochen, das fällt einem dann nicht so ein. Aber wenn das so wirkt, dann bin ich sehr zufrieden.
Wenn man jetzt seine Biographie schreibt, denkt ihr manchmal darüber nach, was vielleicht aus euch geworden wäre, ohne Tocotronic? Jan, du hast mal Jura studiert. Wärst du jetzt Anwalt oder wärst du doch lieber Punk geblieben?
Jan: Ich bin beides im Kern (lacht). Der Gedanke kommt manchmal, unabhängig davon ob man ein neues Album macht oder nicht, aber er führt zu nichts. Die Band ist jetzt so eng mit der eigenen Biographie verbunden. Ich hab die Meinung, so viele Zufälle gibt es nicht und das man so ein gewisses Schicksal hat mit dem man fährt. Führt zu nichts, zu überlegen was sonst wäre. Es ist so gekommen, wie es gekommen ist. Und ich finds ja auch ganz schön – insofern.
Rick: Ich hab viel gejobbt, bevor ich bei den Tocos gespielt habe. Ich glaub ich halte mich da an Spinal Tap, also Schuhverkäufer: „ What size do you wear? Would you like some shoes?“ (lacht)
Ich hab viele normale shit jobs gemacht, seit ich 17 oder 18 war. Bis ich dann endlich meinen Arbeitgeber überreden konnte, mich zu entlassen, aber nicht zu feuern. Dann bin ich zum Arbeitsamt gegangen und hab eine Ich-AG gegründet, als Musiker. Zu der Zeit fing es schon mit dem Live-Spielen bei den Tocos an und dann hab ich auch angefangen bei Karl Bartos (ehemaliges Kraftwerk-Mitglied) zu spielen. Ich war die erste Ich-AG, in Hamburg, der Musiker war, glaub ich.
Also ein Leben ohne Musik war nie eine Option?
Rick: Ja. Ich war immer damit zufrieden, einen gehirnlosen Job zu haben und nebenbei Musik zu machen. Das fand ich auch immer super. Ich wollte kurz mal in der Musikindustrie arbeiten, aber davon war ich sehr schnell abgeturned. Man merkt, dass es nicht das Gleiche ist. Ich begeistere mich nicht so für diese Business-Seite. Man merkt schon oft, dass wir auf der anderen Seite sind. Ich finde diese Leute nicht schlimm, aber die haben eine andere Art zu kommunizieren. Und ich will auch keine Musik machen die mir nicht gefällt.