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Sarathy Korwar – Kalak

Rezensiert von am 13. November 2022

       

Wenn es um die Zukunft ging, gab es in der Filmgeschichte immer die zwei großen Antagonisten – Dystopie: in Abgasen und Regentropfen getränkte Straßenschluchten vollkommen umformter Landschaften und nur noch vereinzelte Erinnerungsfetzen an so etwas wie menschliche Wärme aka Blade Runner. Buchleser würden stattdessen wohl sagen: 1984! Auf der anderen Seite: die freien Menschen die in eigenartig geformten Raumschiffen das Weltall bereisen um den Frieden zu bewahren, zu lernen und das Supermarktsortiment gegen den Replikator getauscht haben aka Star Trek. Oder als Perversion für Fans von Gekritzeltem: Schöne neue Welt. Eine Welt in der die Zeitspanne zwischen Wunsch und Erfüllung so gering ist, dass niemand mehr unglücklich ist.

Jetzt sind wir halt hier. 2022. Weder das Holodeck noch die entmenschlichten Straßenschluchten so wirklich in Sichtweite. Aber schaut man sich um, könnte man meinen sowohl die Dystopie als auch die Utopie umklammern uns still und schleichend. Während in China an jeder Ampel Kameras zum Auge einer allmächtigen Partei werden, verspricht uns das Silicon Valley die ultimative Erlösung durch Solarzellen, Elektroautos und schlussendlich autonomer Ich-übernehm-den-Haushalt-samt-Spaghetti Kochen-und-pflege-auch-deine-Oma-Roboter.

Ist das jetzt das jetzt das Ende der Welt? Und überhaupt irgendetwas müssen wir ja tun!

Wenn man den britischen Musiker Sarathy Korwar fragt, dann sollte die Antwort irgendwo anders liegen:

Selbst Utopien können als Blaupause der Kolonisierung gesehen werden. Die Idee der Utopie ist untrennbar mit der Denkweise des Siedlerkolonialismus verbunden. Sie rührt daher, dass wir die natürliche Welt als unbelebte Ressource und nicht als lebendiges, fühlendes Wesen betrachten. Wir müssen anti-utopisch und anti-dystopisch sein. Wir müssen in der Lage sein, uns eine Zukunft vorzustellen, die sich drastisch von den ‚Utopien“ unterscheidet, die uns von rechtspopulistischen populistischen Politikern in Südasien und darüber hinaus verkauft werden.

Foto: Fabrice Bourgelle

Sein mittlerweile dritte Album “Kalak” ist seine musikalische Antwort auf die Frage wie ein alternative Zukunftsvision aussehen könnte. Bescheiden ist das nicht unbedingt – und vielleicht hat er mich mit seinem leichten Größenwahn angesteckt, aber von der ersten Sekunde an bewirkte “Kalak” in mir das Gefühl von: Ich weiß genau was du meinst. Und wenn so die Zukunft klingt, ja dann bitte mehr her damit!

“Kalak” ist ein Album voller Kontrapunkte, es ist übersäht mit traditionell wirkenden, aus dem indischen Kulturkreis stammenden und doch vertrauten Klangfetzen. Da gibt es die meditativen Passagen mit beruhigendem Chorgesang, melodiöse Saxophon-Soli auf dem absoluten Killer-Track “Utopia is a colonial project”, das Tanzbein und Unterbewusstsein anstupsende Bass-Lines die gnadenlos gekonnt wummern und vor allem:

Percussion!

In allen Facetten, Farben und Spielarten die man sich ausdenken kann. Dass Karwar in erster Linie Trommler (bzw. Tabla-Spieler) ist, lässt er in nahezu jedem Song durchscheinen – so ist “Kalak” vor allem ein rhythmisches Kunstwerk, dass einen über die gesamte Laufzeit mühelos in Trance versetzt.

Korwar, der in den USA geboren ist, aber einen Großteil seiner Kindheit in Indien verbrachte, ist mittlerweile wie viele seiner Kollegen die den Jazz gerade weiterdenken dann doch in Großbritannien gelandet. Während unser letztes Album der Woche der Jungs von Ezra Collective eher Fela Kuti und Jazz verband, macht Korwar quasi Ähnliches mit den Klängen seiner indischen Heimat.

Ähnlich wie der Afrofuturismus, verlagert der Indo-Futurismus den Fokus auf den globalen Süden. In Südasien sehen wir unsere Beziehung zur Zukunft und zur Vergangenheit als Kreislauf. Zum Beispiel das Konzept des Karmas. Die Zeit muss nicht linear fließen.

Dafür hat er sich zahlreiche Kollegen ins Boot geholt – vom Synthie-Spieler von The Comet is Coming bis zum DJ und Soundkünstler Photay. Letzterer sorgt im Zusammenspiel mit Korwar für zahlreiche polyrhytmische Mindfuck-Momente die das Album beim (wohl gewollt!) ziellos wirkendem Ambient wahnsinnig spannend und vielschichtig machen. Wie in einem guten DJ-Set hypnotisieren und erden einen die Tracks auf Kalak so mit ihrem ewig zirkulierenden Melodien. Man könnte fast denken das ganze ist Teil des Konzepts. Moment…

Ich begann ein rhythmisches Notationssystem zu entwerfen, das kreisförmig ist. Mit der Zeit bildeten sich Muster heraus, und je mehr ich über ihre Symbolik nachdachte, desto klarer wurde mir, dass dies der Kern der Platte sein würde. Der KALAK-Rhythmus ist der eine Rhythmus, den jede*r kennt. Es gibt keinen Anfang und kein Ende.

Ja okay, dann hat er mal eben ein eigenes Notationssystem entworfen, dieser Mozart.

Gelohnt hat es sich alle mal. “Kalak” ist in seiner Gänze ein bisschen wie eine 40 minütige Meditation. Es ist unheimlich schwer dieses Album so wirklich zu fassen – und gerade dass macht es so großartig. Kalak ist ein wundervolles Mosaik von kollaborativer Musik die in die Zukunft blickt, aber einen dabei immer mehr in die heilsamen Hände von Mutter Erde zurückbringt. Und wenn man Sarathy Korwar glaubt, ist das wie so vieles im Leben, kein Widerspruch sondern vielleicht gerade dadurch Realität.


Label: The Leaf Label/Indigo
Veröffentlicht am: 11.11.2022
Interpret: Sarathy Korwar
Name: Kalak
Online: Zur Seite des Interpreten.