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Mannequin Pussy – I Got Heaven

Rezensiert von am 12. März 2024

       

Ambivalenz –  wenn man unser Album der Woche mit nur einem Wort beschreiben müsste, wäre es dieses. Kurz nochmal im Duden nachgeschlagen, was das überhaupt heißt: “Zwiespältigkeit; Spannungszustand; Zerrissenheit der Gefühle und Bestrebungen”. Mannequin Pussy treiben das Konzept der Ambivalenz in ihrem Album I Got Heaven auf die Spitze. Während die meisten Bands daran verzweifeln Hardcore Punk mit poppigen Melodien verbinden zu können, wirkt diese Mischung bei der amerikanischen Band spielend einfach. Feinste eingängige, melancholische Popklänge stehen neben frustriert geschrienen gesellschaftskritischen Forderungen und Gitarren, die mit einer Aggression daherkommen als würde man draußen im Gewitter stehen und von Blitz und Donner bombardiert werden – und das teilweise innerhalb des gleichen Songs. Auch textlich wirkt diese Zwiespältigkeit und die Zerrissenheit von Gefühlen absolut gekonnt. Mannequin Pussy liefern somit ein Album voller Überraschungen ab, bei dem man nicht voraussehen kann, welche Art von Song einen als nächstes erwartet. 

Mit Fug und Recht kann man bis dato behaupten, dass es das bisher stärkste Album der vierköpfigen Band aus Philadelphia ist, die das Projekt Mannequin Pussy 2010 begründeten. Ursprünglich als Duo gestartet, scheint die Band um Frontfrau Marica Dabice, nach mehreren Umbesetzungen, jetzt für ihr viertes Studioalbum ihre Idealbesetzung gefunden zu haben. Zwar konnte sich die Band mit ihren ersten drei Alben zwar auch schon ein gewisses Renommee in der musikalischen Fachwelt erspielen, dennoch wirkt das vierte Studioalbum einfach etwas reifer als die Vorgänger. Gut auszumachen ist dies etwa an der Albumlänge: Kratzen die Vorgänger gerade mal so an den 20 Minuten Albumlänge, sind es auf I Got Heaven schon 30. 

Gleich der Opener I Got Heaven startet furios. Während man kurz zu Anfang noch denkt, dass man gleich mit schönem entspannten Dream Pop berieselt wird, werden diese Hoffnungen spätestens nach 15 Sekunden in Grund und Boden geschrien. Die leicht verzerrte Stimme von Marisa Dabrice knallt derart in den Song, dass man kurz denkt, man wäre von einem Auto angefahren worden. Nach kurzer aggressiver Schreiphase nimmt sich der Song etwas zurück. Im Refrain wartet dann schließlich wieder der verträumte Dream Pop, der sich kurz vorher angekündigt hatte. So wabert der Song zwischen diesen unterschiedlichen Stimmungen hin und her. Hinter der Message des Songs verbirgt sich die Botschaft, dass wir alle einzigartige Menschen sind, von denen jede und jeder sein Leben so führen kann, wie er oder sie will, dass es allerdings immer Menschen gibt, die versuchen das Leben vorzudiktieren. Diese Wut auf diese Menschen ist im Song sehr gut zu hören.

Der zweite Song  Loud Bark schließt sich thematisch an den Vorgänger an. Hier geht es darum, dass sich Frontfrau Marica Dabrice von niemandem das Wort verbieten lässt und immer wie ein wilder Hund gegen Missstände anbellt und im Notfall auch mal zubeißt. Dieser Song lebt vor allem durch seine inhärente Steigerung: Fängt er langsam und eingängig an so entwickelt sich der Song zum Refrain hin immer weiter an Intensität und Aggression so lange bis die Textzeile “A loud bark, a deep bite” wieder geschrien wird.

Der Song Nothing Like kommt dann im schönen 90s-Alternative-Rock-Gewand daher und ist deutlich weniger angsteinflößend. Allerdings wird auch hier wieder die Zwiespältigkeit der Gefühlswelt aufgenommen. Inspiriert von einer Folge Buffy – Im Bann der Dämonen thematisiert der Song die schönen Gefühle, die in einer neuen Liebe entstehen, genauso wie die obsessiven Züge, die damit einhergehen. Mit I Don’t Know You folgt dann die Ballade des Albums. Hier wird das Konzept der Ambivalenz dann auch wirklich einmal über den Haufen geworfen und es folgt ein schon fast merkwürdig glatter Liebessong, der sich mit dem klassischen kleinen Crush auf eine Zufallsbegegnung als Thema begnügt. Verträumt geht es auch in dem Track Sometimes weiter. Eine vorsichtig zarte Stimme steht hier den ordentlich treibenden Gitarren entgegen. Der Song wirkt quasi wie Aufforderung die sozialen Batterien mal wieder etwas aufzuladen und sich nicht in der Einsamkeit zu verkriechen: “Come and leave your lonesome ways behind”. 

Kontrastprogramm zu dieser sozialen Ermutigung liefert dagegen wieder der Track OK?OK!OK?OK!. Das ist einfach reinster Oldschool Hardcore wie ihn Black Flag wahrscheinlich auch nicht besser hätten machen können. Dabei wird gefordert, sich selbst zu behaupten, gegen Misshandlungen zu wehren und mit Respekt und Würde behandelt zu werden. Hier sind auch ein paar Riot Grrrl-Anleihen zu spüren. Mit Softly wird dagegen wieder ein Kontrastprogramm gesetzt, indem wir einen melodischen Shoegaze-Song bestaunen dürfen. Es geht um das Weiterentwickeln der eigenen Persönlichkeit und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Beziehung zu seinem Partner. Mit Of Her und Aching wartet danach  musikalisch quasi zweimal derselbe Song. Anderthalbminuten vollstes Punk und Hardcoregewitter. Während es beim ersten Song um das Gefühl von Kontrolle geht, vermittelt der zweite eher das Loslassen und das Gefühl von Freiheit. Den Abschluss findet das Album in der melancholisch verträumten Popballade Split Me Open, die zwischendrin aber auch einmal ordentlich ballert mit der verbindenden Message, dass jede Veränderung möglich ist, allerdings auch etwas Zeit benötigt.

Insgesamt gelingt Mannequin Pussy ein großartiges ambivalentes Album. Musikalisch ist das ganze Projekt vielfältig und emotional. Die Steigerung in den Songs, die gerne mal langsam anfangen und dann komplett reinknallen, ist an vielen Stellen dramatisch wundervoll umgesetzt. An manchen Stellen ist es dann vielleicht etwas zu viel Ambiguität. So ist die erste Hälfte des Albums doch deutlich stärker als die zweite Hälfte, wo man sich gerade bei den beiden Punknummern kurz vor Ende fragt, warum diese stilistisch ziemlich identischen Songs nicht anders auf dem Album verteilt wurden. Auch die Tracks untereinander hängen sehr lose und vage zusammen. Wäre eine deutlichere Verbindung der Songs zueinander auszumachen gewesen, hätte man bei diesem Album schon fast von einem modernen Meisterwerk sprechen können. So bleibt es alles in allem nur ein wirklich gutes Album.


Label: Epitaph
Veröffentlicht am: 01.03.2024
Interpret: Mannequin Pussy
Name: I Got Heaven
Online: Zur Seite des Interpreten.


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