Lauren Mayberry – Vicious Creature
Rezensiert von Michael Landwehr on 9. Dezember 2024
I change shapes ‘til I get what I want from you, it’s your game, now you’re mad that I learned the rules (Lauren Mayberry – Change Shapes)
Mit Solo-Alben von Bandmitgliedern ist es ja so eine Sache: Viele Fans erwarten vor allem, darauf genug Gewohntes wiederzuerkennen. Die Künstlerin oder der Künstler wiederum hat meistens den Anspruch, dass ihr oder sein Werk in erster Linie als etwas genuin Neues und Eigenständiges wahrgenommen wird. Lauren Mayberry hat sich der Herausforderung gestellt, beides unter einen Hut zu bringen und feiert mit dem Album “Vicious Creature” ein in vielerlei Hinsicht überzeugendes Solo-Debüt.
Die 37-jährige Schottin ist seit 2011 Frontfrau des Glasgower Synthie-Pop-Trios CHVRCHES, das mit Hits wie “The Mother We Share” im Jahr 2012 und dem im folgenden Jahr veröffentlichten Debüt-Album “The Bones Of What You Believe” international bekannt wurde. Es folgten drei weitere Alben, zuletzt 2021 “Screen Violence”. Diese erfolgreiche musikalische Vorgeschichte kann und will Mayberry auf “Vicious Creature” keinesfalls verstecken. So könnte gerade der Eröffnungssong “Something In The Air” über die Begegnung mit einem Verschwörungstheoretiker rein klanglich mit seinem raumfüllenden, hymnenhaften Synthie-Refrain durchaus auch ein CHVRCHES-Hit sein.
Aber spätestens beim zweiten Titel “Crocodile Tears” wird deutlich: Dieses Album ist vor allem Ausdruck einer künstlerischen Emanzipation, sowohl musikalisch als auch textlich. Ein treibender Disco-Beat trägt Mayberrys Stimme, die sanft und kraftvoll zugleich klingt. Sie singt über gekränkte Männer-Egos, die nicht mit Zurückweisung umgehen können. Und darüber, dass sie selbst davon einerseits erschöpft ist, sie sich aber andererseits auch ein bisschen Schadenfreude nicht verkneifen kann: “Maybe I’m a villain, but I find it kind of thrilling when you cry”.
Ob Verschwörungstheorien oder toxische Männlichkeit: Das sind keine Themen, die man von CHVRCHES gewohnt ist. Auch wenn “Screen Violence”, das jüngste Album der Band, schon vereinzelt feministische Töne anschlug. Aber bei der Frontfrau reifte das Gefühl heran, mehr zu sagen zu haben. So spielte Lauren Mayberry über die Jahre immer wieder, auch in Interviews, mit dem Gedanken an ein Solo-Album. Im vergangenen Sommer sprach sie im “The Eras Podcast” über ihre Beweggründe:
“It would come up every so often where I would be like ‘Oh, that would be cool to do but we wouldn’t do that here’. Or I would think of a certain song concept or certain lyrics that just don’t really work in the CHVRCHES universe. Because even though I’m the narrator of the band it’s still very much a collective thing.”
(“Immer mal wieder kamen mir Gedanken wie ‘Oh, es wäre cool, dieses oder jenes zu machen, aber so etwas machen wir hier nicht’. Oder ich dachte an ein bestimmtes Songkonzept oder bestimmte Lyrics, die im CHVRCHES-Universum einfach nicht funktionieren würden. Denn obwohl ich die Erzählerin der Band bin, ist es trotzdem eine ziemlich kollektive Sache.”)
Ihre Bandkollegen Iain Cook und Martin Doherty hätten ihr zwar immer wieder verständnisvoll kreative Freiräume geschaffen, aber auch das habe natürlich Grenzen gehabt. So fiel der Entschluss, künstlerisch auf eigenen Beinen stehen zu wollen, sich so freier entfalten zu können und zugleich die eigenen Erfahrungen als Frau in der männerdominierten Musikbranche musikalisch zu verarbeiten.
Das Lied “Change Shapes” handelt davon, wie Mayberry sich über die Jahre immer wieder verbiegen und anpassen musste, sich einengen ließ, sich selbst verleugnete, um männlichen Erwartungen gerecht zu werden. Ihre Zeilen sind nicht nur eine Anklage gegen patriarchale Strukturen, sondern zeugen auch von einer tiefgreifenden, kritischen Selbstreflexion: “It’s exhausting, tryin’ so hard all the time. Performative hypocrisy took over my mind. […] Guess I’m quite the actress, no one knows I’m a liar. I’m preaching to the choir, I’m a body for hire.”
Während Mayberry das Thema auf “Change Shapes” poppig und mit Ohrwurmpotenzial verpackt, bricht ihre Wut auf sexistische Strukturen und die Verzweiflung ob des eigenen Umgangs damit in “Sorry, Etc” auch akustisch voll durch. Der Song sticht aus dem ohnehin vielseitigen Album-Sound heraus wie kein anderer: Schneidende Synthies, die selbst auf dem teils relativ düsteren CHVRCHES-Album “Screen Violence” noch höchstens als Messer daherkamen, werden hier zur Kettensäge. Verzerrte Vocals spiegeln Mayberrys Entfremdung von sich selbst wider, die sie im Text maximal unverblümt ausdrückt: “I killed myself to be one of the boys, […] I sold my soul to be one of the boys”.
Überhaupt spielen auf “Vicious Creature” weibliche Schuldgefühle eine große Rolle. So singt Lauren Mayberry im Song “Shame” von einem besonders Frauen gesellschaftlich stark eingeprägten, verinnerlichten Gefühl, sich für alles Mögliche schämen zu müssen. Und von ihrem eigenen, trotz aller musikalischen Erfolge schwierigen Versuch, damit verbundene Selbstzweifel loszuwerden.
Mit Songs wie dem gospelhaften “Sunday Best”, einer mitreißenden Melange aus Synthie- und Akustik-Pop, zeugt das Album von Lauren Mayberrys großem Talent für eingängige Rhythmen und wunderschöne Melodien. Die kraftvolle Rock-Pop-Nummer “Punch Drunk” wiederum erinnert mit ihren prägnanten E-Gitarren-Sounds und Tempowechseln stellenweise beinahe an Olivia Rodrigo. Hinzu kommt Mayberrys vielseitige Stimme, die mal euphorisch auf den Synthie-Refrains thront, mal wie eine warme Umarmung klingt und mal wie eine bösartige Kreatur wütet, eine “Vicious Creature” eben.
Ruhige Klavier-Balladen mit behutsam eingesetzten, sphärisch-sanften Synthies wie “Oh, Mother” über Mayberrys nicht immer einfaches Verhältnis zu ihrer Mutter oder das sehnsüchtig-melancholische “Are You Awake?”, in dem die schottische Sängerin, die seit einigen Jahren in Kalifornien lebt, von Heimweh und Einsamkeit singt, runden den vielfältigen Klang des Albums ab. Sie bilden einen angenehmen Kontrast zu den schnelleren Synthie-Pop-Songs, auch wenn letztere wohl nach wie vor diejenigen Lieder sind, in denen Mayberry ihre Stärken besonders ausspielen kann.
CHVRCHES-Fans müssen sich übrigens, was die Zukunft der Band angesichts von Lauren Mayberrys Solo-Karriere angeht, wohl erstmal keine Sorgen machen. Schon letztes Jahr, als sie ihr Solo-Projekt ankündigte, schrieb die Sängerin auf Instagram: “We are all confident that the CHVRCHES story has many more pages yet to be written.” (“Wir sind alle überzeugt davon, dass in der Geschichte von CHVRCHES noch viele weitere Seiten zu schreiben sind.”) Und im bereits erwähnten Interview mit “The Eras Podcast” im vergangenen Sommer betonte sie noch einmal, dass es mit CHVRCHES auf jeden Fall weitergehen werde. Ein zweites Solo-Album sei aber auch geplant.
Label: Universal Music Veröffentlicht am: 06.12.2024 Interpret: Lauren Mayberry Name: Vicious Creature Online: Zur Seite des Interpreten.
Coverbild: Universal Music