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Gaye Su Akyol – Anadolu Ejderi

Rezensiert von am 28. November 2022

       

Altin Gün. Allah Las. Derya Yıldırım. Die Liste der Bands die momentan saucoole türkische Musik für dieses Jahrtausend salonfähig machen ist lang. Man könnte fast von einem Trend reden – jeder halbwegs musikbewanderte Studi wird zumindest schon einmal von einer der vielen Gruppen gehört haben die Spotify Playlists, Youtube-Algorithmen und Festivals stürmen. Warum haben wir sie aber vorher nie gehört? Die Musik vom Dönerladen nebenan war dann schließlich doch meist so mitreißend, dass ich eher froh war, den imaginären Lautstärke-Regler durch die Tür nach draußen beeinflussen zu können.

Was besagte Bands unterscheidet – insbesondere Altin Gün – ist sicherlich die Tatsache, dass sie vor Talent und Echtheit strotzen und irgendwo westliche Einflüsse einbinden die den Zugang für verwöhnte Hörgewohnheiten erleichtern. Dabei hat die Türkei eine Musik-Tradition, deren Komplexität mich im Laufe der Recherche für diese Rezension wirklich erschlagen hat. Da gibt es eigene Tonleitern (bis zu 117!). Individuelle strukturelle Einteilungen: ein Ton wird statt in zwei Halbtonschritten in Neun!! Teile unterteilt. Dazu kommt eine Vielzahl einzigartiger Instrumente: Baglama. Bouzouki. Oud. Sazbüş. Cümbüş. Die Liste ließe sich gefühlt endlos weiterführen. Ein beeindruckendes Vermächtnis traditioneller Musikkultur.

Aber zurück ins Jetzt: Die E-Gitarre elektrisiert, der Synthesizer wummert und die Drum-Machine treibt – egal bei welcher jungen türkischen Folk-Band. Aber was immer noch fasziniert, ist das Unbekannte, die riesige Welt der anatolischen Volksmusik und Folklore. So auch bei Gaye Su Akyol.

Gaye Su Akyol ist Sängerin in ihrer eigenen, namensgebenden Band. Sie ist kein Neuling im Business – “Anadolu Ejderi” – ist Album Nr. 4. Über 100 Konzerte hat sie hinter sich. In Deutschland, natürlich der Türkei, und auch im Nahen Osten. Die Istanbuler Musikerin ist in der Stadt der zwei Kontinente aufgewachsen und hat dort den Folk eines Barış Manço und Selda Bağcan genauso aufgesogen wie die Musik von Nirvana oder PJ Harvey. In einem Land in dem konservative Kräfte seit Jahren die Geschicke bestimmen, ist Akyols Musik immer auch ein stück weit politisches Statement.

In a political climate where a woman’s commitment to her passion, to falling in love, to her sexual identity is revolutionary enough, she is deeply passionate and able to express her love freely

Dennoch ist “Anadolu Ejderi” auch sehr persönlich geraten – es geht genauso ebenso um Liebe wie auch um ihr zerrüttetes Land. Akyol verpackt das Ganze in teils sehr exzentrischen Metaphern, wenn sie singt: “Ich bin Syd Barrett von Pink Floyd / Brian Jones von den Rolling Stones” oder aber mit Zeilen wie “Ich bin eine olympische Schwimmerin in einem Becken voller Rasierklingen” ihren Schmerz ausdrückt. 

Musikalisch bewegt sich das Album im stetigen Wechsel zwischen Moderne und Tradition. “Biz Ne Zaman Düsman Olduk” und “Yaram Derin Derin Kanar” bedienen sich an Glitch-Pop Elementen und erinnern an die mystische Düsternis einer Björk. “Martılar Öpüşür, Kediler Sevişir” gipfelt in kratzigen Powerchords und holt kurz Kurt Cobain aus dem Grab und “Sen enim Magaramsin” oder “Vurgunum Ama Acelesi Yok” beschwören mit kraftvollen E-Gitarren-Läufen Assoziationen von Steppenlandschaften herbei, grooven aber gleichzeitig so sehr, dass sie auch als hypnotische Nummern für die Tanzfläche durchgehen.

Für am meisten Feuer sorgt allerdings der Opener “Anadolu Ejderi” inklusive Disco-Passagen – wenn man sich durch die Surf-Gitarre an Pulp Fiction und sein kultiges Titelthema “Miserlou” erinnert fühlt, muss man sich dabei gleich wieder ins Gedächtnis rufen, dass auch das nur eine Verwurstung eines Klassikers aus dem ehemaligen Osmanischem Reich ist.

Lyrically, musically, this is a freedom. It’s a manifesto. As a lover of Turkish psychedelia, I knew I had to go deep and extend genres. I feel like a scientist as it turned into a chemical reaction that expanded the boundaries of genres I was influenced by.

Die vielleicht spannendste Inspirationsquelle von Akyols Musik mögen jedoch die 70er Jahre sein, in denen vor allem in ihrer Heimatstadt Istanbul eine Welle psychedelischer und progressiver Rockbands Musik für die Ewigkeit erschufen. “Anadolu Ejderi” ist also auch ein irgendwo ein Liebesbekenntnis zu Istanbul bei gleichzeitigem Schmerz über die politische Gegenwart, wenn sie in Kör Biçaklarin Ucunda singt: “Ich werde dich für immer lieben”.

Things were lost in a city we loved. Politically and economically we’re witnessing a country in collapse. There are lots of memories of pain in this country, and pain is bigger than anything. I had a chance to see the beauty of the past. Now it’s going down and down, tearing at the deep beauty of this country.

Die New York Times titelte einmal “Turkish Rock Music’s biggest hope”.

Iggy Pop sagte über ihre Musik sie sei “viel erfüllender als jede populäre Musik aus dem erschöpften Westen heute.”  Ich würde es dann doch lieber bei ihrer eigenen Superlative belassen: gut gesungen, “Anadolu Ejderi” –  Anatolischer Drache!


Label: Glitterbeat Records
Veröffentlicht am: 25.11.2022
Interpret: Gaye Su Akyol
Name: Anadolu Ejderi
Online: Zur Seite des Interpreten.