Aktueller Song

Titel

Künstler

Aktuelle Sendung

Aktuelle Sendung


IGOR STRAWINSKY UND DER SCHOCK DER MODERNE

Geschrieben von am 24. Juli 2017

In Europa wurde er lange Zeit mit Skepsis betrachtet und als “restaurativer” bzw. “reaktionärer” Gegenpol zu Schönberg von Adorno diskreditiert. Dennoch zählt Strawinsky zu den wichtigsten Komponisten der modernen Musik im 20. Jahrhundert.

Am 17. Juni 1882 wurde Igor Feodorowitsch Strawinsky in Oranienbaum bei St. Petersburg geboren. Er wuchs in einem großbürgerlichen und künstlerisch sensiblen Umfeld auf. Der Vater, Fjodor Strawinsky, sang als Bassist an der Kaiserlichen Oper in St. Petersburg und auch seine Mutter war sehr talentiert am Klavier. Das musikalische Talent war in der Familie gegeben und so begann Strawinsky mit neun Jahren Klavier zu spielen und bereits mit 15 Jahren unternahm er erste Kompositionsversuche. Dabei zeigte er bald auffallende Begabung zur Improvisation und er experimentierte besonders gerne mit Intervallen. Da seine Eltern allerdings eine solide Ausbildung forderten, begann er 1899, mit 17 Jahren, zunächst ein Jurastudium in St. Petersburg. Nach drei Jahren, parallel zum Jurastudium, wurde Strawinsky aber auch Schüler von Nikolao Andrejewitsch Rimski-Korsakow. Unter seiner Anleitung studierte er Komposition und Instrumentation. 1905 schloss er sein Jurastudium aber trotzdem mit dem Staatsexamen ab. In dieser Zeit entstand auch die 1. Sinfonie von Igor Strawinsky, die er seinem Lehrer Rimski-Korsakow widmete.

Igor Strawinsky hatte einen unermüdlichen Entdeckerdrang. Er lernte viel über Kunst, Literatur und das Leben. Er wollte raus aus dem provinziellen Leben seiner Heimat und ging deshalb nach Paris. Dort lernte er den Choreographen und Direktor des russischen Balletts Sergej Diaghilev kennen und freundete sich mit ihm an. Während seiner ganzen Laufbahn gab Diaghilev ihm immer wieder wichtige Impulse für seine Kompositionen. Im Jahr 1910 arbeiteten sie zusammen an dem Ballett “Der Feuervogel”. Die Szenerie ist die folgende: Ein Baum mit merkwürdig goldenen Früchten steht im Garten des russischen Herrschers Kastschej. Darin bewegt sich ein glitzernder, leuchtender Vogel aufgeregt hin und her. Thronfolger Iwan Zarewitsch gelingt es, diesen phantastischen Vogel zu fangen. Der verspricht ihm für den Fall der Freilassung, in jeder Notlage behilflich zu sein.
Ursprünglich hatte Diaghilev den Komponisten Anatol Liadow für das Feuervogel-Projekt vorgesehen. Allerdings war dieser zeitlich verhindert und so bekam Strawinsky mit 27 Jahren die Möglichkeit, in Paris mit seiner Komposition bekannt zu werden. In Strawinskys “Feuervogel” sind sowohl Einflüsse von seinem Lehrer Rimski-Korsakow zu bemerken, als auch Strawinskys eigene Ideen wie Glissando- und Flatterzungen-Effekte. Mit dem “Feuervogel” gelang Strawinsky eine Art Renaissance des Ballett-Genres, dennoch heißt das aber nicht, das alles wie vorher geblieben ist. Im Gegenteil: Die Ballerina Tamara Karsawina sollte den Feuervogel bei der Uraufführung 1910 tanzen und musste Stück für Stück lernen mit der Musik zu tanzen. In ihren Erinnerungen schreibt sie: “Meine musikalische Erziehung begann mit dem Feuervogel. Es war ein tränenreiches Lernen. Zwar durchdrang mich die poetische Ausdruckskraft des Feuervogels sofort. Für jemand wie mich aber, der nur auf leicht erkennbare Rhythmen und einfachen fasslichen Melodien erzogen worden war, gab es Schwierigkeiten, das kompositorische Muster zu verfolgen. Strawinsky zeigte Güte und Geduld. Oft erschien er vor einer Probe früher im Theater, um wieder und wieder einige schwierige Passagen für mich zu spielen. Da war keine Ungeduld über mein langsames Verstehen, kein Herabblicken eines Meisters von seinem Rang auf mein spärliches musikalisches Rüstzeug.”

Strawinsky schaffte mit seinem Ballett “Feuervogel” nicht nur die Renaissance des Balletts, sondern er erlangte auch über Nacht internationale Berühmtheit. Und noch mehr: Im Publikum der Premiere saß der bekannte Claude Debussy. Er sprach zunächst etwas verhalten über den “Feuervogel”, war ein Jahr später aber voller Enthusiasmus für Strawinsky. Und dieser hatte bereits ein neues Ballett geschrieben: “Petruschka”. In insgesamt vier Bildern erzählt das Ballett die Geschichte dreier Puppen eines Gauklers, die auf geheimnisvolle Weise zum Leben erwachen. In seiner Schrift “Erinnerungen” von 1936 berichtet Strawinsky: “Bei dieser Arbeit hatte ich die hartnäckige Vorstellung einer Gliederpuppe, die plötzlich Leben gewinnt und durch das teuflische Arpeggio ihrer Sprünge die Geduld des Orchesters so sehr erschöpft, dass es sie mit Fanfaren bedroht. Daraus entwickelt sich ein schrecklicher Wirrwarr, der auf seinem Höhepunkt mit dem schmerzlich-klagenden Zusammenbruch des armen Hampelmannes endet.”
Nicht nur Debussy war von “Petruschka” begeistert und nannte Strawinsky den “einzigen Erfinder eines magischen Effekts”, er griff sogar in seinen eigenen Werken später auf die Machart von Petruschka zurück. Aber auch das restliche Publikum feierte die “Petruschka” mit ihren stark expressionistischen Zügen.

Nachdem Strawinsky ab 1910 einige Zeit in der Schweiz verbracht hatte, kam er 1913 nach Paris zurück und sorgte dort für einen der größten Theaterskandale in der Musikgeschichte. “Schuld” daran war die Uraufführung von Strawinskys Ballett “Le Sacre du Printemps”, das mit den Höhepunkt seiner expressionistischen Phase begründet. Bis zum Exzess getriebene Rhythmik, Atonalität, eine Brutalität der Handlung, extreme Lautstärke, ungewohnte Instrumentation – all das war das elegante Paris nicht gewohnt. Strawinsky richtete sich mit “Sacre” gegen die Schönheitsideale der Spätromantik, brachte wilde, russische Folklore ein und ging damit weit über die bisherigen Innovationen hinaus. Dafür musste er auch Kritik wie “Kakophonie”, “das Werk eines Wahnsinnigen”, “ein von Idioten gemachtes Ding” einstecken. Andere erkannten aber auch direkt den Wert dieses Werks, wie sein Bekannter Claude Debussy. Dieser sagte im November 1913 zu Strawinsky: “Es ist mir eine besondere Genugtuung, Ihnen mitzuteilen, wie sehr Sie die Grenzen des Zulässigen im Reich des Klangs erweitert haben.”
Strawinskys Motivation zu diesem Werk: “Als ich in St. Petersburg die letzten Seiten des ,Feuervogel’ niederschrieb, überkam mich eines Tages – völlig unerwartet, denn ich war mit ganz anderen Dingen beschäftigt – die Vision einer großen heidnischen Feier: Alte angesehene Männer („Die Weisen”) sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das zufällig ausgewählt wurde und geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen. Das wurde zum Thema von ,Le sacre du printemps’.”  

Ab 1920 lebte Strawinsky in Frankreich. 14 Jahre später erhielt er die französische Staatsbürgerschaft. Mit seiner Zeit in Frankreich wandelten sich auch seine Kompositionen und er wandte sich dem Neoklassizismus zu. Zum einen steht das Ballett “Pulcinella” von 1920 für diese Zeit. Für “Pulcinella” griff Strawinsky auf Vorlagen des neapolitanischen Komponisten Giovanni Battista Pergolesi zurück und belebte damit Formen und Stile vergangener musikalischer Epochen wieder. Strawinsky war ganz vernarrt in die Musik von Pergolesi, er sah in ihm einen echten Geistesverwandten. Für “Pulcinella” übernahm Strawinsky barocke Noten und bekannte sich damit zur Geschichte, machte sich diese Noten aber zeitgleich durch Zugabe, Variation, Klangfarbe oder Rhythmus zu eigen. Nachdem sein alter Freund Diaghilev ihm zu diesem Stück geraten hatte, bekam Strawinsky außerdem Unterstützung durch seine Bekanntschaft mit der geistlichen Elite von Paris. So gestaltete beispielsweise Pablo Picasso die Kostüme und das Bühnenbild für das Ballett. 

Zehn Jahre nach der “Pulcinella” komponierte Strawinsky ein Werk, in dem man Einflüsse seiner Kindheit wiederfindet: Die “Psalmensinfonie für Chor und Orchester”. Strawinsky wurde streng orthodox erzogen, was seine Komposition geistlicher Musik stark prägte. Die Psalmensinfonie war eine Auftragskomposition für das Boston Symphony Orchestra und besteht aus drei Sätzen, die jeweils einen alttestamentlichen Psalm vertonen. Für Strawinsky kam der Auftrag gerade zur rechten Zeit: “Der Gedanke ein symphonisches Werk größeren Umfangs zu schreiben, beschäftigte mich bereits seit langem. Ich stimmte daher dem Vorschlag, der meiner Absicht entgegenkam, freudig zu. Man hatte mir in der Wahl der Form völlige Freiheit gelassen und ebenso auch in der Wahl der Mittel.”
Sein Wunsch war es, eine Symphonie mit großer kontrapunktischer Entwicklung zu schreiben: “Ich entschloss mich […], ein Ensemble zu wählen, das aus Chor und Orchester zusammengesetzt ist und bei dem keines der Elemente dem anderen übergeordnet, beide also völlig gleichwertig sind. Meine Ansicht über die Beziehungen zwischen den vokalen und instrumentalen Gruppen glich also genau dem Verfahren, das die alten Meister kontrapunktischer Musik anwandten.”
Für die Sinfonie wählte er die Psalme 39, 40 und 150 aus. Diese Psalme und deren Sprache hatten für Strawinsky schon selbst etwas rituelles: “Die strenge Form dieser Sprache hat an sich schon so viel Ausdruckswert, dass es nicht nötig ist, ihn durch die Musik noch zu verstärken. So wird der Text für den Komponisten zu einem rein phonetischen Material.” In dieser Sinfonie ist das Orchester ungewöhnlich besetzt mit nur tiefen Streichern, Holz- und Blechbläsern, Schlagwerk und zwei Klavieren, die dem Werk einen besonderen Klang verleihen. 

Nach der Besetzung Frankreichs und dem Tod seiner ersten Frau Katerina Nossenko ließ Strawinsky sich in Hollywood nieder, wo er 1939 seine vielzitierte Vorlesungsreihe “Poéthique musicale” an der Harvard Universität hielt. Darin stellte er unter anderem die bekannt gewordene Behauptung auf, dass Musik “nichts als sich selbst ausdrücken kann”. In Amerika lernte er auch Robert Craft kennen. Der amerikanische Dirigent und Musikwissenschaftler Robert Craft diente Strawinsky als Übersetzer und Chronist, um mehr Vertrautheit mit der englischsprechenden Welt zu bekommen, aber aufgrund seines Einflusses widmete sich Strawinsky auch der Zwölftontechnik von Arnold Schönberg und anderen seriellen Kompositionstechniken. Sein Spätwerk beginnt: Die Werke aus dieser Phase haben meist einen geistlichen Charakter, so zum Beispiel “Canticum sycrum” (1955) und “Threni” (1958). Strawinsky selbst sieht seine Komposition “Bewegung für Klavier und Orchester” als Wendepunkt seines Werkes. “[…] wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich selbst überrascht darüber, wie lange ich den Spagat zwischen Tonalität und Atonalität durchgehalten habe. Liegt es daran, dass mit siebzig das Verlernen ebenso schwer ist wie das Lernen? Auf jeden Fall sehe ich jetzt die Bewegung für Klavier und Orchester als Wendepunkt in meinem Spätwerk.” 

Am 6. April 1971 starb Igor Strawinsky mit 88 Jahren in New York. In San Michele bei Venedig wurde er auf der Toteninsel beigesetzt. Bis zum Schluss zeigte er noch eine ungebrochene Arbeitskraft als Dirigent und 1987 bekam er posthum den “Grammy Award” für sein Lebenswerk verliehen.
Strawinskys Kompositionen zeichnen sich durch ihre kurzgliedrige, oft nur aus wenigen Tönen gebildete Melodik, ihre charakteristische asymmetrische Rhythmik und ihr enges Verhältnis zum Tanz aus.


Weiterlesen