Everybody Scream – Florence + the Machine
Rezensiert von Nataly Gehrke on 6. November 2025
Mit ihrem sechsten Studioalbum beweisen Florence + the Machine, dass sie nach wie vor “One of The Greats” sind. Die 12 Songs des Albums sind dabei an Opulenz und dunkler Pop-Magie kaum zu überbieten. Hauptverantwortliche für Inhalt und Stil ist Sängerin Florence Welch. Sie verarbeitet mit dem Großteil der Texte auf “Everybody Scream” einen schrecklichen Schicksalsschlag, der sie 2023 fast das Leben gekostet hätte.

(CW: Fehlgeburt) Die Entsehung von Everybody Scream ist gezeichnet von einem großen Schicksalsschlag. Während der vergangenen Tour zum Vorgängeralbum Dance Fever erleidet Florence Welch auf der Bühne unerwartet eine Fehlgeburt, weswegen sie fast den damit einhergehenden inneren Blutungen unterliegt. Was darauf folgt sind zwei Jahre durchzogen von großer Trauer, dem Versuch, Trost in der Natur und Musik zu finden und der Erkenntnis, dass Wut, Trauer und Schmerzen den Körper erst verlassen müssen, damit wieder Frieden einkehren kann. Das Ergebnis ihrer Aufarbeitung ist ein musikalisches Wechselbad der Gefühle, begleitet von epischen Streichern, Bläsern und Chor-Gesängen, die einem direkt ins Mark fahren. Unterstrichen wird das Ganze auf kraftvolle Weise durch die Stimmgewalt von Welch, die auf ihrem wohl persönlichsten Werk präsenter scheint als je zuvor. Unterstützt wurde sie auf einigen Songs von den Sänger*innen des Londoner Deep Throat Choir sowie dem Idrîsî Ensemble. Als Produzent taucht hauptsächlich The National Gründungsmitglied Aaron Dessner auf. Für den Text von Buckle arbeitete Welch mit Indie-Musikerin Mitski zusammen, die auf der Aufnahme auch an der Gitarre zu hören ist.
Obwohl sich Everybody Scream in seinen 50 Minuten hauptsächlich erschütternd emotionalen und schwerwiegenden Themen widmet, blitzt an einigen Stellen immer wieder die humorvolle Seite der 39-Jährigen durch – nur eines der Indizien dafür, dass die Künstlerin Welch durch nichts aufzuhalten ist. So ist der Titel des Albums aus dem simplen Wunsch nach einem banalen Reim auf den Bandnamen entstanden – was, im Hinblick auf den lyrischen Tiefgang der Texte und die charakteristisch mystische Ästhetik beinahe ironisch erscheint.

Ein prägnantes Beispiel für die tiefe Emotionalität, die sich sowohl durch Welchs Leben als auch durch das Album zieht, ist der Track Perfume and Milk. Es ist mehr Gedicht als Song, aber keineswegs weniger bezeichnend für die Geschichte von Florence Welch. Musikalisch lediglich mit einer akustischen Gitarre versehen steht der Text hier ganz klar im Vordergrund. Dieser erzählt von Trauer, Hoffnungslosigkeit und dem Gefühl von Verlorenheit, gleichzeitig von dem Wiederaufleben von Stärke und Optimismus.

Mit diesen Kontrasten zeichnet sie den unveränderlichen Kreislauf des Lebens. Durch Vergleiche mit dem Absterben und späterem Wiederaufleben der Natur malt Welch ein Bild, welches nicht klar in eine Stimmungslage einzuordnen ist und noch weniger eine deutliche Gefühlslage wiederspiegelt. Aber genau davon lebt Perfume And Milk, was ursprünglich als Gedicht entstanden ist. Die Verse geben tiefen Aufschluss über die Vielschichtigkeit von Gedanken und Gefühlen, die mit solch einem Schicksalsschlag einhergehen und obwohl es zeitlich von allen Songs am weitesten vom eigentlichen Geschehnis entfernt ist, verliert es dadurch keineswegs an Aktualität. Vielmehr versteht es sich als eine Reflexion und fokussiert die Erkenntnis, dass das Leben konstant weitergeht, aber Gefühle dabei nie an Validität verlieren. Mit den Zeilen “All Shall Be Well” hinterlässt Florence eine optimistische Note, die sowohl ihr selbst auch den Hörer*innen Hoffnung bietet.

Viel Optimismus sucht man auf Drink Deep dagegen vergeblich. Auf dem ätherischen Track entführt uns Florence Welch in die Welt der Fae, also eine Art Elfe der Mittelaltermythologie. Sowohl textlich als auch musikalisch spielt der Song mit dem Gefühl von Gefahr und der ursprünglichen Darstellung von Elfen. Diese werden zu der Zeit nämlich, im Gegensatz zu unserem heutigen Bild, eher als furchtsame Kreaturen der Nacht wahrgenommen. Diesen Wahrnehmungskontrast verbindet Welch mit der Glorifizierung von Fame und Erfolg in der Musikbranche. Der Song setzt komplett auf Metaphern, die aus einer mystischen Welt stammen und mit dessen Regeln spielen. So projiziert sie beispielsweise auf die oberste Regel, niemals Essen von den Fae anzunehmen, aus Gefahr dadurch nicht mehr in die eigene Welt zurückkehren zu können, ihre eigenen Erfahrungen – sowohl mit ihrer Alkoholsucht, als auch dem besonderen Lifestyle auf Tour. Statt metaphorisch zu essen, trinkt sie zwar, aber das Prinzip bleibt bestehen: Was nach außen hin wie ein glamouröses Leben wirkt, ist in Wirklichkeit kräftezehrend. Gleichzeitig zieht es die Sängerin immer wieder auf die Bühne, immer wieder in diese wundersame Welt. Sie weiß um den Preis, den sie für dieses Leben zahlt, aber der ist nicht hoch genug, um sie davon abzuhalten.

Man sollte meinen, die Thematik einer Fehlgeburt und die Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Mythik alleine wären ausreichend Material, um sich auf Albumlänge gut beschäftigt zu wissen – Welch hebt zusätzlich jedoch noch weitere Elemente, wie die offensichtliche Kritik an der Musikindustrie und dem immensen Druck, welchem sie sich als junge Frau mit einem kommerziell extrem erfolgreichen und ausgezeichneten Debütalbum (Lungs) ausgesetzt fühlte, hervor. Denn trotz all der Liebe, die sie für die Musik und das Performen empfindet, ist es doch auch in der Musikwelt nicht alles Gold was glänzt.

In Kraken stellt Florence Welch diese Missstände auf beeindruckende Weise dar, indem sie sich in eine Krake verwandelt, die all jene mit sich in die Tiefe zieht, die früher nicht an sie geglaubt haben und jetzt doch nach ihrer Aufmerksamkeit ringen. Der Song erschafft das Bild von einem Gefühl der Rastlosigkeit hin zu dem Ausbrechen aus den ihr auferlegten Ketten. Es ist eine metaphorisch meisterhaft definierte Kritik an dem Gefühl, als Frau in der Musikindustrie nicht ernst genommen zu werden und stark um Anerkennung ringen zu müssen. Auf sehr klare Weise findet diese Thematik in One Of The Greats Ausdruck, in Kraken bleibt es bildlich – Wut findet aber in beiden Songs seinen Platz.

Dies singt Welch, während ihre wachsende Wut mit lauter werdenden Gitarren, Drums und Harfenklängen, später auch mit Streichern, perfekt untermalt wird. Kraken ist genau so kraftvoll, wie die Frau, die Florence Welch ist.

Doch neben all der Wut, die wie ein Feuer unter der Haut der Sängerin brennt, bleibt doch auch viel Raum für Sanftheit. Das Album lebt von dem stätigen Wechsel aus Ausbruch und Rückzug. Aus dem Lauten und dem Leisen. Aus dem Kraftvollen und dem bewundernswert Sanften. Einen Abschluss, der all dies vereint, findet Everybody Scream in And Love. Ein Song, in dem Florence einen Weg findet, mit dem Vergangen abzuschließen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Dabei geht es ihr keineswegs darum, das Geschene zu vergessen. Vielmehr baut es auf einer Erkentniss auf, die die Sängerin bereits vor sieben Jahren hatte. Im closing track No Choir von ihrem 2018 erschienen Album High As Hope verändet sich Welchs Perspektive auf ihre Defintion von Glücklichkeit. Wo sie vorher dachte, glücklich zu sein wäre geprägt von den aufregensten und spannensten Phasen des Lebens, findet sie für sich heraus, dass Glücklichkeit eigentlich ganz sanft und friedlich ist. Und genau den gleichen gedanklichen Wandel finden wir bei And Love bezogen auf das Thema Liebe.

Die Worte “Peace is coming” wiederholt sie wie ein Mantra. Wie ein Zauberspruch, der nur oft genug ausgesprochen werden muss, bis er in Erfüllung geht. Die friedvollen Harfenklänge und leisen Pianotöne verstärken die Magie des Liedes weiter. Und wenngleich es nicht die einzige positive Affirmation auf dem Album ist, so ist es doch jene, der Welch selbst die höchste Wirkungsmacht zuschreibt. Man könnte dem Album an vielerlei Stelle eine gewisse magische Wirkung unterstellen, aber wenn sie sich einen Zauber aussuchen müsste, der in Erfüllung geht, so wäre es dieser. Das sagt Florence Welch in einem Interview, aber irgendwie sagt es auch der Song selbst. Denn mit ihm findet Everybody Scream einen Abschluss, der mit Hoffnung durchtränkt ist. Und in Anbetracht all des Wutes und all der Trauer, die in diesem Album stecken, ist es bewundernswert, wie aus so viel ehrlichem Schmerz etwas so Wunderschönes erwachsen kann.
Text von Nataly Gehrke und Fee Briesemeister
Label: A Polydor Records / Rebublic Records Recording Veröffentlicht am: 31.10.2025 Interpret: Florence + The Machine Name: Everybody Scream