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Ella Eyre – Everything, in time

Rezensiert von on 25. November 2025

       

I get ahead of my feelings,
patience isn’t my thing
I been telling my demons

that I’ll make good with my sins
But everything, everything in time

(Ella Eyre – Everything, In Time)

Die Karriere von Ella Eyre beginnt Anfang der 2010er Jahre als kometenhafter Aufstieg: Mit 16 Jahren wird die britische Sängerin, die ihre ersten musikalischen Schritte im Kirchenchor machte, an der renommierten Londoner BRIT School aufgenommen. Zu deren ehemaligen Schülerinnen gehören immerhin Namen wie Amy Winehouse und Adele. Mit 17 ergattert sie ihren ersten Plattenvertrag mit Virgin Records, mit 19 steht sie an der Spitze der britischen Charts: “Waiting All Night”, eine Kooperation mit der Drum-and-Bass-Band Rudimental, wird zudem bei den BRIT Awards 2014 als “British Single of the Year” ausgezeichnet. Im Jahr darauf schafft es Eyres Debütalbum “Feline” auf Platz 4 der UK-Album-Charts. Es folgt eine Reihe weiterer, erfolgreicher Singles. Mitte des letzten Jahrzehnts sieht alles danach aus, als würde ihre charakteristische, kraftvoll-raue Stimme auf Jahre hinaus eine der relevantesten der britischen Popmusik bleiben.

Stattdessen erfährt Ella Eyre dann immer wieder persönliche und musikalische Rückschläge, wodurch sich ihr geplantes zweites Album Jahr um Jahr verzögert. 2017 stirbt ihr jamaikanischer Vater, ohne den sie zwar aufgewachsen war, dessen kulturellen Hintergrund sie aber als bedeutsam für ihren Musikstil bezeichnet. Darüber, wie dieser Stil klingen soll, zerstreitet sie sich im Laufe der Jahre mit zwei Labels. Nach den großen, dancelastigen Mainstream-Erfolgen der ersten Jahre, oft als Feature-Gast männlicher Künstler, will Eyre endlich ihrem eigenen Sound folgen, nicht mehr primär als “voice-for-hire” (“Mietstimme”), wie sie selbst es rückblickend formuliert, wahrgenommen werden. Nach einer Stimmband-OP 2020 muss sie diese Stimme aber erst einmal buchstäblich wiederfinden, kann ein halbes Jahr nicht singen. Hinzu kommen das Ende einer langen Beziehung und – das räumt die Künstlerin ganz offen ein – auch eine ordentliche Portion Prokrastination.

So erscheint erst jetzt, ein Jahrzehnt nach Ella Eyres Debütalbum “Feline”, ihre zweite LP mit dem vielsagenden Titel “Everything, in time”. Mehr noch als ein Comeback – so ganz weg war sie eh nie – ist das Album vor allem Ausdruck einer künstlerischen Selbst(wieder)findung. Schon die 2023 erschienene erste Single-Auskopplung, “Head In The Ground”, markierte entsprechend Eyres zuvor erfolgtem Wechsel zum Indie-Label Play It Again Sam auch musikalisch einen Kurswechsel: Statt den Drum-and-Bass- und EDM-dominierten Klängen der Vorjahre standen nun ihre souligen Vocals und akustische Instrumente im Vordergrund, in diesem Song ergänzt durch einen Rap-Part des britischen Künstlers Tiggs Da Author. So ganz neu war dieser Sound zwar nicht. Schon auf Eyres erstem Album gab es neben chartorientierten Drum-and-Bass-Hits – ein Genre, das Mitte der 2010er Jahre in der britischen Popmusik gefühlt allgegenwärtig war – auch soul- und R&B-lastigere Titel sowie ruhigere Balladen. 

Aber das war eben nicht das, womit Ella Eyres frühere Label und eine breitere Öffentlichkeit sie primär verbanden oder verbinden wollten. Wie wenig Eyre selbst versteht, wie sie sich über die Jahre mitunter so verbiegen, verstecken und verlieren konnte, wird in den Lyrics von “Head In The Ground” deutlich. Ihre musikalische “Wiederauferstehung” wird auch vom dazugehörigen Musikvideo inszeniert, in dem die Künstlerin aus ihrem eigenen Grab steigt.

Head in the ground too long
Where did I leave my soul?
Where did I drop that ball?
No one knows

Eyres offensichtliche Erkenntnis: Sie muss ihre künstlerische Identität endlich selbst in die Hand nehmen. Denn: “Only one bitch with the key to the lock.”

Ella Eyres musikalische Selbstfindung geht auch mit einer hörbaren neuen Leichtigkeit einher, vor allem auf “Domino Szn”, klanglich einem der Highlights des Albums. Der funkig-eingängige Rhythmus harmoniert wundervoll mit Eyres unbeschwertem, verträumten Gesang. “Feels like domino season, think I fell in that deep end. Can I see you soon? I like how I feel with you”. Ein Song, der nach verliebten Sommer-Vibes klingt. Nach Momenten, in denen alles zueinander passt. Nach Domino Day, mindestens ein ganzes Augustwochenende lang. Und gleichzeitig authentisch und verspielt genug, um nicht kitschig zu wirken.

Das zunächst vergleichsweise ruhige, aber mit der Zeit immer raumfüllender und wuchtiger werdende “Kintsugi” ist nach einer traditionellen japanischen Reparaturtechnik für zerbrochene Keramik benannt. Bei dieser werden Bruchstellen nicht überdeckt, sondern mit Goldlack sogar hervorgehoben. Auf den ersten Blick geht es im Lied um eine kraftvolle, geradezu explosive romantische Beziehung, die sich doch immer wieder neu zusammenfügt.

Beauty, from a beast
Just like kintsugi, yeah yeah
You and me
Broken harmonies
Sounds like kintsugi, yeah, yeah
Symphonies

Mindestens genauso enthält der Text aber eine wunderschöne und treffende Metapher für Ella Eyres neues Selbstbewusstsein. “Harmonies”, “sounds”, “symphonies”: Hier geht es offenkundig auch um sie selbst als Musikerin. Die Lyrics entfalten gerade auch in Kombination mit dem minimalistisch gehaltenen Musikvideo ihre ganze Kraft. Kintsugi, das steht für die Vollkommenheit des Unvollkommenen, für die Akzeptanz gegenüber (eigenen) Schwächen und Makeln, dafür, aus dem Gegebenen das Beste zu machen: “Cracks they gon’ show, fill them with gold”.

Aus etwas Altem, Kaputten entsteht etwas Neues, Anderes, das zugleich viel Bewährtes beinhaltet und in ganz eigenem Glanz erstrahlt. Wie “Head In The Ground” ist auch “Kintsugi” Ausdruck dafür, dass Ella Eyre sich den Kern ihrer musikalischen Identität bewahrt hat, obwohl – oder gerade weil – sie zugelassen hat, dass etwas Neues entsteht. Wohl nicht zufällig erinnert Ella Eyres Pose auf dem Single-Cover von “Kintsugi” an Sandro Botticellis Gemälde “Die Geburt der Venus”.

Soul- und R&B-lastigere Klänge, mehr authentische Texte, originellere Produktion: Ella Eyres zweites Album spiegelt in vielfacher Hinsicht ihre Entfesselung, Entfaltung und Weiterentwicklung der vergangenen Jahre wider. Gleichzeitig besinnt sie sich auf ihre musikalischen Stärken. Zum Album-Konzept gehörte nach Eyres eigener Aussage, dass sich Songs wie “Red Flags & Love Hearts” wie ein Hindernisparcours für ihre Stimme anfühlen sollten. Nach ihrer Stimmband-OP sei diese stärker als je zuvor geworden, deshalb habe sie ihre Grenzen erkunden wollen. In der Tat gerät “Everything, in time” über weite Strecken zur stimmlichen Leistungsschau einer Ausnahmesängerin, die in der Musikpresse ihres Heimatlandes immer wieder zurecht als “powerhouse vocalist” betitelt wird.

Was ebenfalls geblieben ist, ist Ella Eyres Gespür für groovig-eingängige, packende, tanzbare Melodien. Sie schreibt weiter Songs mit Hitpotenzial, aber nach ihren eigenen Regeln, ohne Major-Label im Nacken. Umso befreiter, gelöster, mitreißender klingen Lieder wie “Space”, “This Shit Hurts” und “Diamonds”.

Andererseits ist es ohne die Reichweite eines Major-Labels natürlich schwieriger, nach einer zehnjährigen Album-Pause wieder ins Gespräch und in die Ohren einer breiteren Hörerschaft zu kommen. Wohl auch deshalb wurden 9 der 15 Songs auf dem Album vorab als Singles ausgekoppelt, wenn auch mit überschaubarem Erfolg. “Hell Yeah”, wohl der poppigste Song auf “Everything, in time”, schaffte es kurz vor Erscheinen des Albums immerhin auf Platz 6 der britischen Shazam-Charts.

Es wird sich zeigen müssen, ob Ella Eyre davon profitieren kann, dass ihre Musik authentisch und glaubwürdig klingt, gleichzeitig aber auch gut in die gegenwärtige Poplandschaft passt. Schließlich wird diese seit einiger Zeit wieder stärker von R&B- und Neo-Soul-Künstlerinnen wie Raye und Olivia Dean geprägt – beide übrigens ebenfalls ehemalige BRIT-School-Schülerinnen. Gut möglich also, dass Ella Eyre auch in dieser Hinsicht zur rechten Zeit am rechten Ort ist, selbst wenn sie nicht an vergangene kommerzielle Erfolge anknüpfen kann.

Was ihr offensichtlich viel wichtiger ist: Sie ist nach vielen Jahren und mindestens ebenso vielen Rückschlägen drangeblieben und legt mit “Everything, in time” nun ein Album vor, das zeigt, was sie endlich gefunden bzw. wiedergefunden hat: Ihre herausragende Stimme, ihren eigenen Sound, ihr Vertrauen in sich selbst als Künstlerin und darin, dass alles zur rechten Zeit passieren wird.


Label: Play It Again Sam
Veröffentlicht am: 21.11.2025
Interpret: Ella Eyre
Name: Everything, in time
Online: Zur Seite des Interpreten.


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