At The Beach, In Every Lifetime – Gigi Perez
Rezensiert von Luka Ray Neumann on 28. April 2025

Einen geliebten Menschen für immer zu verlieren ist wahrscheinlich einer der universellsten Ängste der Menschheit egal welchem Glauben oder welchem Glauben man nicht sich zugehörig fühlt. Die Singer-Songwriterin Gigi Perez hat in ihrem Debüt-Album „At The Beach, In Every Life“ die Trauer um ihre verstorbene ältere Schwester verarbeitet. Das Album, was sich durch viele Akustik-Gitarren-Balladen auszeichnet, behandelt aber auch Gigis Lesbisch-Sein, Liebeskummer, Cisheteronormativität, den Schmerz des Erwachsen-Werdens und sie hinterfragt ihren eigenen Glauben.
Das Album und Gigi Perez Musik haben eine ganz eigene Atmosphäre. Die Akustik-Gitarre, der Hall auf ihrer Stimme und die Background Vocals lassen die Zuhörenden innehalten, hinterfragen und vor allem Fühlen. Ihre poetischen Lyrics tragen dazu bei, dass alle ihre Songs sich anfühlen wie Erzählungen aus einer vergangenen Zeit, die nun von ihr überliefert werden. Vor allem ihre traurigen Balladen sind wie schlaflose Nächte in verlassenen Kirchen: alleine mit seinen Ängsten, (selbsternannten) Sünden, Glauben und der Hoffnung, dass bald Licht durch das bunte Glas fällt.
Ich kenne kaum Künstler*innen oder Bands, die ähnliche Sounds haben, aber Ethel Cain kommt wahrscheinlich noch ähnlicher als viele anderen.
Also beginnen wir die musikalische Reise durch schmerzvolle Erinnerungen und der Hoffnung nach Tageslicht:
„At The Beach, In Every Lifetime” startet mit dem viralen Song “Sailorsong”. Die Vocals am Anfang des Songs hören sich an wie Sehnsuchts-Gesänge von Meerjungfrauen, und Sehnsucht ist der Kern dieses Songs. Gigi Perez beschreibt eine Frau mit der sie eine sexuelle Liebesbeziehung führt. Beide Frauen erfragen sehnsüchtig Intimität voneinander und das Ausmaß dieser Liebe und Sehnsucht wird im Chorus deutlich:
I don’t believe in God but I believe that you’re my savior
Zusammen mit dem Wunsch von Gigi geküsst und geliebt zu werden von der Frau, wie eine Seefahrerin, hören wir eine allumfassende Liebeserklärung und das Zugeständnis, dass selbst Gott nicht die gleiche Erlösung wie die geliebte Frau bringt (Lesbian Yearning > everything else)
Einer meiner liebsten Veränderungen von Lyrics ist auch in dem Song:
I sleep so I can see ‘cause I hate to wait so long, I sleep so I can see you and I hate to wait so long
Gigi schläft also, um in ihren Träumen die Frau zu sehen, die sie liebt und damit die Zeit schneller vergeht, sodass sie sich schneller wieder sehen können.
Von der hohen See kehren wir nun Heim. „Sleeping“ lässt uns in die Gefühlswelt von Gigi Perez nach dem Tod ihrer älteren Schwester eintauchen. Der Song beginnt mit dem Stimmen einer deutlich verstimmten Gitarre; es fühlt sich an als wäre Gigi noch nicht bereit gewesen und hätte noch Zeit gebraucht, die Gitarre zu stimmen. Dies steht wahrscheinlich für die fehlende Zeit mit ihrer Schwester, die bereits mit 22 Jahren gestorben ist, als Gigi selbst erst 20 Jahre alt war. Gigi beschreibt, dass sie viel geschlafen hat, um die Trauer zu verarbeiten, während andere weinten. Sie kritisiert jedoch das Weinen der anderen, da es für sie mehr ein leeres Ritual darstellt als die Gefühlslage der Menschen zu zeigen. Im Verlauf des Songs singt Gigi von ihrer Einsamkeit, da Menschen sie alleine gelassen haben und von ihrem mentalen Zerfall. Die oft wiederholte Lyric I was sleeping, I was snoring wird in der Bridge abgeändert zu I was desperate, I was whoring; die Sängerin versuchte auf anderen Wegen Aufmerksamkeit und das Gefühl von Liebe zu bekommen, was ihr von anderen in dieser Trauer fehlte.
Trauer bleibt weiter unser Begleiter im Song „Sugar Water“. Der Song behandelt schmerzende Nostalgie zu Gigis Kindheit und einer Beziehung, die sie nicht mehr hat. Zwischen Plüschtieren und Erinnerungen an ihre Schwester finden sich prägende Ereignisse, wie das erste Fat-Shaming und auch das Anzweifeln der eigenen Religion. Gigi will wieder zurück dahin wo sie sich ganz und vollkommen gefühlt hat. Die Background Vocals lassen den Song wie eine warme aber bittersüße Erinnerung wirken.
Eine bittersüße Erinnerung führt Gigi Perez zu einer bitteren Erkenntnis in „Normalcy“. Der fast sechs minütige Song lässt die Zuhörenden an Gigis Gedankenprozess über eine vergangene Beziehung teilhaben. Die Vocals in diesem Song sind voller Herzschmerz, Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die lange vorbei ist, und einer Zukunft, die nie stattfinden wird; die beiden Frauen zusammen, glücklich zusammen. Die vielen instrumentalen Pausen fühlen sich wie Zeit an, die beide Frauen nicht nutzten.
Normalcy’s boring interpretiere ich so, dass Gigi die ungewöhnliche Natur der Beziehung, also das nicht Loslassen, aber auch nicht Zusammenkommen können der Beiden (eventuell auch die Queerness der Beziehung), als nicht normal erkennt. Gleichzeitig wertet sie aber Normalität ab und somit redet sie sich diese Beziehung schön.
Im Song findet sich auch eine erneute Meer-Metapher „And I haven’t a clue, Why I’m a siren to you”. In der griechischen Mythologie sind Sirenen weibliche Wesen, die im Wasser leben und durch ihre Stimmen und Gesänge Seefahrer*innen verführen. Gigi Perez erkennt hier erneut die ungesunde Beziehung der beiden an, aber versteht sie immer noch nicht.
Vielleicht hat die Sängerin sich selbst als Sirene sehr treffend beschrieben. Ihre atmosphärische Stimme hallt im Song „Nothing, Absolutely“ wieder.
Gigi Perez Herz war leer, bis sie die besungene Person traf und sie dadurch sich selbst wiederfand. Die Sängerin referenziert ihr Motiv von Schlaf aus „Sailorsong“ und „Sleeping“:
Sleeping is hard without you, […] I sleep in the dark without you
Sie funktioniert als Mensch nicht mehr ohne die Person und beschreibt den sonst eskapistischen Schlaf als eine schier unmögliche und angsteinflößende Aufgabe.
„Chemistry“ ist musikalisch und durch die Vocals von Gigi einer der besten Songs auf dem Album. Der Song ist die musikalische Verkörperung der neu gefundenen, queeren Lust und Sehnsucht, die von anerzogener religiöser Scham durchzogen ist. Es geht diesmal explizit um Sex, die Geheimhaltung der Beziehung vor anderen und dem unbändigen Drang nach einer zwischenmenschlichen Beziehung. Sie will sich (The beast livin‘ inside me) ausleben, ohne befürchten zu müssen, dass die andere Person sie verlässt, wie viele anderen zuvor (If this ends like all things do, I have come prepared, I have clipped a leash and left you by the tree).
Zum Song “Sailorsong” wird erneut eine Referenz gezogen: The cat chases the mouse, Your mother looks and says: “Some things we just don’t talk about. Das Versteckspiel der queeren Beziehung vor der Mutter und die Scham wird lyrisch weiter ausgemalt. Ein Zustand, den vor allem queeren Menschen mit religiösen Eltern nachvollziehen können. Das Gefühl immer vor etwas wegzulaufen und gleichzeitig zu etwas hinrennen zu wollen und sich im ständigen Hin und Her zu verlieren.
Die Bridge ist mein Highlight von Gigi Perez Vocals: Man hört die gefährliche Verzweiflung einen „Deal“ mit der anderen Person machen zu wollen. Die ganze Bridge ist eine Anspielung an die Disney Märchenverfilmung „Die kleine Meerjungfrau“. „Poor unfortunate soul“ stellt hier die andere Frau dar und in dem Märchen eben Arielle, die Ursula ihre Stimme gegen Beine eintauscht. Dieser „Deal“ ist unmoralisch und bringt Arielle zwar zu ihrer „wahren Liebe“ aber für welchen Preis? Dies kann man auch auf die geheime queere Beziehung von Gigi und der anderen Frau anwenden und fragen: Ist diese neue Welt mit echter Lust und Gefühlen wert der anderen (religiösen und cisheternormativen) Welt für immer den Rücken zu kehren?
Gigi Perez selbst ist offen lesbisch und auch religiös; jedoch gibt es viele religiöse und queere Menschen, die immer noch von vor allem der religiösen Community gezwungen werden sich zwischen ihren beiden Identitäten zu entscheiden.
„Survivor’s Guilt“ führt uns wieder in das schwarze Chaos der Trauer um Celene, Gigis verstorbener Schwester zurück. Man hört Celene singen bis ihre Stimme verklingt und ein bewegendes Instrumental ertönt. Für mich hört es sich an wie brechende Wellen in einem Sturm. Dies wäre erneut symbolisch für Trauer, die laut vielen Menschen in Wellen kommt und geht, und eben dem Chaos in Gigis Kopf entspricht.
Der Song „Crown“ reiht sich in Gigis Religionskritik bis hin zur Blasphemie ein und der Trauer um ihre Schwester. Die Singer-Songwriterin singt von Visionen von Jesus und ihrer Schwester. Der Song ist einer der eher musikalisch düsteren Songs und das Motiv mit Visionen und verlorener Zeit mit der verstorbenen Schwester passt sehr gut dazu. Der Song heißt „Crown“, weil Gigi Perez kritisiert, dass verstorbene Menschen, wie Jesus und auch ihre Schwester auf Podeste gestellt werden, weil sie eben tot sind. Vor allem im Falle ihrer Schwester lesen sich die Lyrics erneut wie Kritik an anderen Trauernden.
„Fable“ ist der letzte Song, der sich explizit mit dem Tod von Celene befasst. Der Song ist nach dem letzten Lied benannt, den Celene vor ihrem Tod gesungen hat und stellt Religion und das Versprechen eines unendlichen Lebens in Frage. Der Song ist für mich persönlich der schmerzhafteste auf dem ganzen Album. Die Vocals (Background Vocals von ihrer anderen Schwester) und die Musik durchgehen mit den Zuhörenden alle Phasen der Trauer unter anderem auch die Wut. Gigi Perez singt von intimen und hilflosen Momenten, wie zum Beispiel als sie die Urne der Schwester hochhebt und an Gott zweifelt. Hier fühlt sie ihre Haut metaphorisch verbrennen, da sie mit dem Zweifel an Gott eine Sünde begeht. Gleichzeitig übt sie wieder Kritik an anderen Trauernden und Gläubigen, die sich nicht um sie gekümmert haben, sondern nur leere Phrasen wie Thoughts and Prayers gesagt haben.
Die Lyric, die mich jedes Mal emotional macht ist:
Capital Loss, Love was the law and religion was taught
Hiermit geht sie erneut auf den Drahtseilakt zwischen Religion und Queerness ein. Sie verlor durch ihr Outing wahrscheinlich viele Beziehungen obwohl doch Liebe das natürlichste der Menschheit ist und Religion den Menschen angelernt wurde.
Im Hintergrund hören wir alte Aufnahmen von Celene und wie sie ihrer Schwester viel Glück für einen Auftritt wünscht. Die letzten Lyrics des Songs möchte ich kommentarlos einfach wirken lassen, da sie so wunderschön und herzzerreißend sind:
Stars blink like my sister’s eyes […], I dream of eternal life
Wir begleiten Gigi Perez mit „Please Be Rude“ in ihren letzten romantischen Liebessong des Albums. Sie singt von Verständigung ohne Worte, nur mit einem Blick. Eine Liebe, die ihr so bekannt vorkommt und dessen Ende sie wahrscheinlich selbst durch ihr Verhalten vorher sieht. Sie erfragt von der anderen Person ihr Fehlverhalten zu spiegeln sobald es dazu kommt und lehnt damit eventuelle grenzenlose Liebe ab.
„Twister“ ist der vorletzte Song des Albums und präsentiert erneut das mystische Songwriting von Gigi Perez. Es geht um eine Hexe, eine Schlange und die Frage an die andere Person, ob diese die Magiewelt von Oz aus der Geschichte „Der Zauberer von Oz“ sucht oder doch Gott. Eine Gegenüberstellung von Gott mit einer ausgedachten Fantasiewelt in der sich der Zauberer als Zauberer ausgibt obwohl er keine Magie besitzt nur um Macht zu gewinnen. Der Song fällt durch die Bearbeitung der Vocals im Chorus aus der Reihe. Trotz dessen passen diese Töne, die sich künstlich und fast wie Plastik anhören, wieder in den Kontext der nicht echten Welt von Oz und dem Zweifel an der Existenz von Gott.
„At The Beach, In Every Lifetime” endet mit dem gleichnamigen Song. Er ist eine Liesbeserklärung an geliebte Menschen, die der Sängerin durch schwere Zeiten geholfen haben und die sie immer am Strand finden und retten würden, in jedem Leben. Egal ob es gemeinsames Reden oder Schweigen ist, Gigi Perez vergleicht diese Beziehungen mit heiligem Licht und erinnert sich selbst an die Worte, der geliebten Menschen.
Das Album „At The Beach, In Every Lifetime” hat mich umarmt, festgehalten und nicht mehr losgelassen. Die Akustik-Gitarre mit den wiederhallenden Vocals von Gigi Perez und unter anderem auch ihrer anderen Schwester in „Fable“ haben mir immer wieder Gänsehaut bereitet. Die Songs sind wie eine Fahrt auf unruhiger See mit der stetigen Hoffnung noch den nächsten Sturm zu überstehen ohne zu wissen, was danach wohl kommen mag.
Die Geschichten und Einblicke, die uns Gigi Perez gewährt, sind so intim und gleichzeitig nachfühlbar. Die Aufnahmen ihrer verstorbenen Schwester, ihre Trauer, ihre Liebe und ihre Sehnsucht lassen einen selbst Menschen-Heimweh bekommen. Wie sie mit ihrer Queerness umgeht, lässt die Zuhörenden verstehen: Scham ist die Angst vor den Menschen, nicht vor Gott.
Liebe ist all das Gesagte und Ungesagte, die Zeit die man miteinander verbringt und die man miteinander noch gerne verbracht hätte, die Liebe die man geben konnte und noch zu geben hat.
Ich möchte mit den Worten den letzten Worten auf dem Album die Rezension abschließen:
I just wanna say „I love you” one more time, I love you, goodbye
Label: Island Records Veröffentlicht am: 25.04.2025 Interpret: Gigi Perez Name: At The Beach, In Every Lifetime