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Lorde – Virgin

Rezensiert von on 2. Juli 2025

       

Die Single „What Was That“ ist vielleicht nicht der Einstieg in Lordes viertes Studioalbum, dürfte aber symbolisch dafür stehen, wie die Sängerin die letzten Jahre verbracht hat. Nach mehreren Jahren, in denen es nur vage Hinweise auf ein neues Album gab, postete sie am 22. April, dass Fans sie im Washington Square Park treffen sollten. Das Event wurde vor dem Start von der Polizei beendet, doch einige Stunden später tauchte Lorde tatsächlich auf und ließ den Song zum ersten Mal in voller Länge abspielen.

Diese kleine Geschichte steht symbolisch für das gesamte Album, dessen Songs lange nur angeteasert wurden und Fans rätseln ließen, wann es denn nun wirklich erscheinen würde. Und anstatt wie zuvor vollständig neue Wege zu gehen, überrascht Lorde mit einer Rückkehr zum Sound von „Melodrama“, allerdings mit experimentellen Erweiterungen. Die Sängerin sucht in „Virgin“ nicht nur ihr künstlerisches Selbst, sondern auch ihr persönliches. Dafür fährt sie den Sound zurück, wird häufig leise, und lässt Hörer*innen daran teilhaben, dass eine Selbstfindung niemals abgeschlossen ist.

Das wird schon im ersten Song „Hammer“ deutlich. Lorde singt über die imposanten Momente in ihrem Leben und das Gefühl, ständig in Bewegung zu sein. Dabei erlebt sie zwar immer wieder Unsicherheiten, am Ende ist es aber auch das Großstadtleben, das sie genießt. Don’t know if it’s love or if it’s ovulation ist dabei eine Lebenseinstellung. Das Tempo des Songs passt dazu, vor allem aber die Einführung des Synth-Sounds ist ein kleiner Vorgeschmack darauf, was das Album zu bieten hat.

What Was That“ hat als Lead-Single regelrecht Ohrwurmcharakter, vor allem aber wegen der Beats, die im Hintergrund begleiten und dann in den gesanglosen Parts zum Highlight werden. Im Text verarbeitet Lorde vergangene Beziehungen, Bedürfnisse und auch Abhängigkeiten, die sie nicht überwinden kann. Trotz des intensiven Themas ist es der Song, der am häufigsten gehört werden dürfte. Und erneut wird klar: Lorde lebt elektronische Sounds.

Die Songs „Shapeshifter“ und „Man of the Year“ hängen stark zusammen. In beiden singt Lorde über Geschlechterrollen und das Entfliehen von Geschlechterrollen, die ihr zugewiesen werden. Mit some days I’m a woman, some days I’m a man beschreibt sie ihre eigene Identität – und verzichtet dabei bewusst auf ein eindeutiges Label. Sie verarbeitet auch das Selbstgefühl als Prozess, der nicht abgeschlossen ist. Musikalisch könnten die Songs dabei kaum unterschiedlicher sein: „Shapeshifter“ wird laut, gegen Ende regelrecht unangenehm, nur damit die Ruhe von „Man of the Year“ umso intensiver wirkt. Sie beschleunigt, um zu entschleunigen.

Ein weiteres Highlight ist „Favourite Daughter“, in dem Lorde gefühlt ihre Mutter anspricht und sowohl den Druck, als auch die Liebe zu ihr definiert. Der Sound kommt klassischen Popsongs nahe, und dennoch sorgt der gezielte Synth-Einsatz gepaart mit unerwarteten Höhen dafür, dass sie sich abgrenzt.

Die Verarbeitung der sexuellen Unsicherheiten und der Bestimmtheit wird in der zweiten Hälfte des Albums stärker aufgearbeitet. „Current Affairs“ handelt von intensiven Beziehungen, die unangenehm zuende gegangen sind.  Der Sound wird düsterer, wütender und läutet einen dramatischeren Teil des Albums ein. Auch „Clearblue“, benannt nach dem Schwangerschaftstest, führt dieses Muster fort und lässt Lorde ohne Antworten zurück. Das spiegelt sich auch musikalisch wider: Das Finale wird a capella gesungen und hinterlässt ein unwohles, unabgeschlossenes Gefühl, denn der Song endet ohne einen echten Akzent. Oh, wish I’d kept the Clearblue. I’d remember how it feels to be.

Der Song „GRWM“, die Abkürzung für Get Ready With Me, bezieht sich auf einen TikTok-Trend, bei dem es ums Vorbereiten für eine Party oder andere Veranstaltungen geht. Das ist allerdings nicht wörtlich zu verstehen: Vielmehr kritisiert Lorde den Druck für Frauen, sich intensiv optisch aufzubereiten. Maybe you’ll finally know who you wanna be, a grown woman in a baby tee fordert sie selbst heraus, sich so darzustellen, wie sie es möchte. Das sind viele Aussagen für einen recht kurzen Text gepaart mit lauten, unangenehmen Drums, die vor allem herausstechen.

Und dann beginnt Lordes endgültige Offenlegung ihrer persönlichen Ängste, Unsicherheiten und Fehler der Vergangenheit im Song „Broken Glass“. MitI wanna punch the mirror to make her see that this won’t last denkt sie an schöne Momente zurück, die rückblickend nur Leid gebracht haben. Und dennoch ist der Sound nicht melancholisch und geht eher auf den Synthsound von „What Was That“ zurück. Dieser wunderbare Kontrast klingt auch beim wiederholten Hören aufregend und zeigt vielleicht auch, dass sie nicht in Melodramatik versinkt.

In „If She Could See Me Now“ erkennt Lorde ihren eigenen Erfolg an, der zwar aus den Erwartungen ihrer Mutter entstanden ist, sie aber nicht vollständig definiert. Das klingt musikalisch fast hektisch, aber eben auch chaotisch genug, um die Syntheinlagen glänzen zu lassen. Und dann endet das Album auch schon: „David“ referenziert direkt die Musikindustrie, die ihr unglaubliche Glücksmomente, aber auch immense Qualen bereitet hat. Vor allem die Frustration über die Abhängigkeit zur Branche beschäftigt sie, und wie so oft hat Lorde keine perfekte Antwort auf diesen Konflikt parat, möchte ihn aber durch ihre Musik kommunizieren. Zum Abschluss verzichtet das Album auf die großen Töne, vielmehr steht Lordes kraftvoller Gesang im Vordergrund, während die Musik regelmäßig ausfadet und sich auch der Synth ein letztes Mal verabschiedet.

Lorde erfindet sich mit „Virgin“ nicht neu, sondern findet zum Sound von „Melodrama“ zurück, ohne sich dabei von ihm übermannen zu lassen. Vielmehr nutzt sie vertraute Töne, um die erwachsenere Person in den Fokus zu stellen. Familienerwartungen, sexuelle Selbstbestimmung, und offene Fragen, die das Leben selten beantworten kann, bilden den emotionalen Kern von „Virgin“ und beweisen, dass Lorde sich treu bleibt. Nicht umsonst nennen Olivia Rodrigo, Billie Eilish und viele weitere Künstlerinnen Lorde als maßgebliche Inspiration für die eigene Musik. Und genau das macht Virgin so stark: Hier kommen Jahre voller Erfahrungen im Leben und in der Musikindustrie zusammen, um einzigartige Songs zu erschaffen, die mal einen Ohrwurm-Charakter haben, mal aber derart explizit mit schwierigen Themen umgehen, dass man sie nicht einfach in eine Playlist packen könnte. Dabei ruht sie sich nicht auf „Melodrama“ aus, sondern wird experimenteller und mutiger. Jede*r sollte offen an das Album herangehen und wird dann auch schnell verstehen, wieso kein anderes Werk diesmal das Album der Woche hätte sein können. 


Label: Universal Music New Zealand Limited
Veröffentlicht am: 27.06.2025
Interpret: Lorde
Name: Virgin
Coverbild: Bild: Lorde.de


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